von Philipe Reinisch
Seit über 6 Monaten war mein Sattel mein Heim, mein Motorrad mein Zuhause. Gleichzeitig mein Schlafzimmer, meine Küche, mein Wohnzimmer – alles untergebracht auf meinen zwei Rädern. Fast 18.000km habe ich mittlerweile entlang der Seidenstrasse bis nach China und retour zurückgelegt. Und bald bin ich wieder bei meiner Familie. Meinen Freunden.
Wie ich es realisiere setzt mein Herzschlag kurz aus. Das Blau mit gelben Punkten blitzt in der Distanz nur kurz durch – aber ich erkenne es trotz des zerkratzen Visiers sofort.
Die Tafel rast mir entgegen. Diese erste Manifestation der so geliebten Heimat kurz nach der ukrainischen Grenze in Polen.
Zisch.
Das Schild schießt mit 100 km/h an mir vorbei – so schnell fliegt es an mir vorbei, dass ich kaum meine Freude realisieren kann.
Die Gedanken springen nach Afghanistan. Wo Panzerketten, die als Bodenschwellen den Verkehr verlangsamen sollen, quer über der staubigen Strasse liegen. Wo mir zahnlose Soldaten vor der Polizeistation lachend in gebrochenem Englisch erzählen, dass der Mann da drüben vor kurzem von Polizisten einer anderen Station vergewaltigt wurde. Weil er schließlich schwul sei.
Meine Gedanken springen zu anderen Erlebnissen – zu dubiosen Polizisten, wo man nicht weiß, wer korrupt ist oder nicht. In Ländern wo kein 112 funktioniert, falls das Motorrad wieder mal versagen oder es einen anderen Notfall geben sollte. Oder fragwürdige Aufforderungen von Zollbeamten, sie finanziell zu unterstützen – und man nicht weiß wie man darauf reagieren soll. In Regionen der Welt, wo Grenzübertritte einen halben Tag dauern.
Eine Reise mit vielen Eindrücken. Mit vielen Erlebnissen, die erst noch verarbeitet werden wollen.
Meine Aufmerksamkeit kehrt zu der Strasse zurück. Die Spannungen der letzten Monate allein unterwegs auf der Seidenstrasse fallen von mir schlagartig ab. Und die Freude übermannt mich. Langsam laufen mir die Tränen in die Augen. Tränen, welche meine Wangen hinablaufen und sich entlang meinem zotteligen Bart einen Weg durch den vergilbten Helm finden. Bis sie schließlich vom Fahrtwind verblasen werden und sich als Nebel auf meinem zerrissenen Motorradanzug wieder anlegen.
Endlich daheim, denke ich mir.
Diese Grenztafel zurück in Europa ist mehr als nur ein blauer Hintergrund mit gelben Sternen. Sie bedeutet Heimat. Eine Bedeutung, die man nur wirklich versteht, wenn man sie nicht hat.
© Philipe Reinisch 2019-05-07