Wir lernen neue Wörter. Familienangehörige von ganz nahe, wie Mutter, Vater, Bruder, Tochter, bis entfernter, wie Stief-, leibliche Nachkommen, gleichermaßen, wie adoptierte, Verehelichte und Verpartnerte. Verwandtschaftlichkeiten.
“Wie ist der Vorname deines Vaters?”, so beginne ich und gebe ab an den Gefragten. Dieser antwortet und stellt eine andere Frage an sein Gegenüber. Die neuen Wörter stehen auf der Tafel. Das erste Mal überlasse ich das Fragen und Antworten den Schülern. Eine M hat sich zum vierten Mal in ein erstes Semester eingeschrieben und ihre Motivation für das Erlernen der Fremdsprache kenne nur ich schon lange. Sie ist geschieden und hat einen italienischen Freund. (Sie ist eine Nette, denke ich. Zum fünften Mal beantworte ich die Frage danach, wie man wissen kann, ob ein Begriff weiblich, oder männlich ist, aber nicht). An sie stellt ihr Gegenüber die Frage nach dem Namen ihres Ehemanns. “Mein Ehemann heißt Massimo”, antwortet sie. Das neue Wort ist “marito ”, sie muss nicht die Wahrheit sagen über Privates, wichtig ist die Vokabel. Drei Fragen weiter bekommt eine andere dieselbe Frage. “Mio marito – was heißt Lebensgefährte?“ “Das ist egal”. werfe ich ein. “Das ist egal”, folgt als Echo von M.“ Was heißt Lebensgefährte bitte?“ Der Ton ist fordernd. “Il mio compagno, il mio uomo.” H beantwortet daraufhin die Frage wahrheitsgetreu.
In der Halbzeitreflexion mit der Einladung zur Äußerung von Bedürfnissen, Wünschen, Kritik, bekomme ich Kritik von H. Berechtigt, wie ich meine. Wenn sie eine Frage stellt, hätte sie gerne eine Antwort, anstelle von “das ist egal”. Ich nehme die Kritik an. ( Signalisieren wollte ich, dass sie nicht wahrheitsgetreu antworten müsse, M hatte auch marito gesagt und hier ist es egal, ob Trauschein, oder nicht).
M schreibt sich in kein weiteres erstes Semester ein, nicht ins zweite, H bleibt. Ein Jahr später frage ich nach der Lieblingsspeise ihres Lebensgefährten. “Ich habe keinen Lebensgefährten”, antwortet H indes. “Ich bin Single”. Diesmal geht es um Lieblingsspeisen.
Mein Bedauern über die Trennung ist aufrichtig. In der Pause erzählt H unter vier Augen, dass sie sich getrennt hätten, sie und ihr Partner. Nach vielen Jahren wäre es schwer, damit leben zu lernen, aber langsam wäre sie darüber hinweg und hätte gelernt, alleine zu leben. Mit meinem Gedächtnis hätte sie nicht gerechnet. Ich spreche ihr Mut zu.
Zu Hause angekommen, ist ein Mail eingelangt. Von H. Betreff: Lügen haben kurze Beine. Den Lebensgefährten hat es nie gegeben. Schon immer lebt sie ohne Partner. Um sich nicht dafür rechtfertigen zu müssen, hat sie eine glückliche Zweisamkeit jahrelang vorgetäuscht. Jetzt hat sie den Mut gefunden, sich einzugestehen, dass sie in keiner Beziehung lebt und zu sich selbst zu stehen.
Dabei ging es nur um neue Vokabeln, um Lieblingsgerichte und Imperfekt. Am Ende entpuppen sich bisweilen Lebensdramen und in Wahrheit geht es immer um den Menschen hinter der Vokabel.
© Elisabeth Kinigadner 2021-07-17