von Ellen Westphal
Je länger ich bei der Fasten-und-Aussortier-Challenge dabei bin (zu den Regeln siehe den Text “FFC – Spaß am Aussortieren”), desto mehr wird mir bewusst, wie stark mich Sachen besitzen.
Die Sachen besitzen mich!? Ja. Leider.
So lange ich genug Platz für sie habe, ist es kein augenfälliges Problem.
Wenn ich mir vorstelle, genussvoll auf eine Jahres-Weltreise zu gehen, bräuchte ich das meiste Zeug nicht. Ein Rucksack voller notwendiger Dinge und das Gefühl purer Freiheit, solange genug Geld für Essen, Unterkunft und Transport vorhanden sind: Glück.
Doch wenn ich Stück für Stück aus meinem Leben entfernen soll – vor allem: soll, nicht will, denn obwohl ich die Challenge freiwillig kreiert habe, ist sie nun eine empfundene Verpflichtung – bemerke ich, wie schwer mir das fällt. Muss es heute wirklich sein? Gut, dann eben … widerwillig schleppe ich mich in die Ecke meiner Räumlichkeiten, in der ich hoffe, am schnellsten fündig zu werden. Meistens klappt das, aber manchmal ist mein Widerstand auch sehr groß.
Dabei hätte ich gedacht, die Sachen seien mein Eigentum und ich wäre berechtigt, mit ihnen zu tun, was ich will. Fehlanzeige. Dieses Buch wurde von einer Freundin geschenkt. Jene CD könnte ich vielleicht noch einmal hören wollen – obwohl ich es die vergangenen zehn oder mehr Jahre nicht tat. Das Kästchen haben mir jüngere Verwandte geschenkt. Gilt nicht doch das Shirt, das ich zur Klamottentauschparty gebracht habe, als aussortiertes Teil? Nein? Schade. Reicht vielleicht diese leicht unscheinbar gewordene Spielfigur? Super! Erleichterung macht sich breit, nachdem das Teil in der Kiste “für vor die Tür zu stellen” gelandet ist.
Etwas neidisch betrachte ich draußen im Vorbeigehen die gut gefüllte Kiste aus der Nachbarschaft – von Menschen, die einfach ohne Aufhebens und ohne diese Challenge den Brauch entwickelt haben, Überflüssiges tagsüber anzubieten und abends den Rest wieder einzusammeln. Aber ist es nicht noch viel zu feucht für so eine Aktion? Gedankenverloren gehe ich spazieren und träume von einem gut sortierten, aufgeräumten Zuhause, das trotzdem behaglich ist.
An dieser Stelle wendet sich das Blatt und mir wird bewusst, das all diese überflüssigen Nettigkeiten in meinen Schränken und Regalen eine Funktion erfüllen. Soziales Kitt.
Braucht man Emotion wirklich im stofflichen Zustand? Oder reichen nicht doch Fotos und Videos? Letztere finde ich allerdings zu allgegenwärtig und überproduziert. Außer KI wird sie ohnehin niemand mehr ausreichend wahrnehmen können. Dazu wird zu viel Content erstellt. Von zu vielen. Vermutlich wird die Fasten-Challenge in zehn Jahren deswegen lauten: Jeden Tag eine Datei löschen.
Auch wenn uns das nicht vor dem Zuviel retten wird. Dafür bräuchte es radikales Detachment, Lösen vom “Sich besitzen lassen durch Dinge”. Seien sie Sache oder digitale Entitäten.
Die Kiste der Nachbarn ist am Abend übrigens immer noch genauso voll wie am Morgen.
© Ellen Westphal 2023-04-03