von Gossengoethe
Ich sah sie eine Zeitlang jeden Tag im Bus, oft frühmorgens, selten auch mal abends. Aufgrund der Uhrzeit waren wir meist die einzigen Fahrgäste, allerdings schien jeder von uns seinen angestammten Platz zu haben, ich allein in einen Vierersitz irgendwo in der Mitte gelümmelt und sie ganz hinten auf der langen durchgehenden Bank. Öfters telefonierte sie leise; ich lauschte zwar nicht gewollt, aber wenn ich mal keine Kopfhörer dabeihatte und zu energiegeladen für ein Nickerchen war, bekam ich trotzdem so einiges mit. Ein Großteil davon schien sich um drollig-nervige Angewohnheiten ihrer Katze, harmlose medizinische Sorgen oder kurze Revue der vorangegangenen Partynacht zu drehen. Einmal sprach sie über die sexuellen Vorlieben ihres momentanen Gspusis, was ich aus Respekt dann mit schallisolierenden Kopfhörern ausblendete, obwohl ich eh nichts zum Musikhören dabeihatte.
Sie hatte einen… interessanten Stil. Schwarz in schwarz, immer gerade etwas zu elegant für einen normalen Wochentag, mit viel, aber gekonnt verwendetem Make-up. Dazu Springerstiefel, riesige Ohrringe und ein keck hervorschauendes Unterarmtattoo einer weinenden Muttergottes. Sie rauchte filterlose Lucky Strikes; also nicht die originalen, die gibt es ja seit Jahrzehnten nicht mehr. Aber immer, kurz bevor sie an ihrer Haltestelle ausstieg, nahm sie eine Schachtel Luckies, riss von einer Zigarette den Filter ab, schob beim Aussteigen das gerade Ende in den Mund und zündete dann das zerrupfte an. Als klar wurde, dass wir regelmäßig gleichzeitig im Bus waren, entwickelte sich ein höflich-wohlwollendes Nicken als Begrüßung und Abschied und einmal bat sie mich um Auskunft, da sie irgendwo anders aussteigen musste und den Weg nicht gut kannte. Wir sprachen sonst nicht viel miteinander.
Bis zu jenem Abend, Jahre später. Ich war nichtsahnend auf dem Nachhauseweg von einem Club in einer zwielichtigeren Gegend, als mir jemand plötzlich um den Hals fiel, oder es angesichts des Größenunterschieds zumindest versuchte. Spätestens nach dem Ausruf „Da bist du ja, Bruderherz! Ich dachte schon, du kommst nicht!“ wusste ich, dass hier etwas faul war. Ich habe eine Schwester; die war zu diesem Zeitpunkt aber ein Kind, und zudem in einem anderen Land. Nein, meine ehemalige Busgefährtin sah mich aus großen, Hilfe suchenden Augen an und ich verstand die Lage intuitiv. Lachend umarmte ich sie und beschwerte mich über unsere fiktive Mutter, die mich lange aufgehalten hatte, während ich sie schnell zur nächsten Bar etwa einen Kilometer entfernt bugsierte, damit sie sich dort ein Taxi rufen konnte. Sobald ich sie in Sicherheit wusste (und sie mir tausendmal gedankt hatte) schnorrte ich noch eine Lucky – für mich aber bitte mit Filter – und spazierte nach Hause.
Wer genau sie bedrängte, warum sie darauf vertraute, dass ich richtig reagieren würde, oder sogar nur ihren Namen habe ich nie erfahren. Aber das gute Gefühl dieser Spontanrettung hielt noch tagelang an.
© Gossengoethe 2021-05-14