von Emma Arafta
Fips trägt immer eine schwarze Haube, schwarze Handschuhe und einen schwarzen Mantel, wenn er durch die belebten Bahnhofshallen flitzt. Hauptsache, er kommt dabei nicht der Boulderbar zu nahe, die nur wenige Mäuseschritte entfernt ist, wo vielleicht ein linksradikaler queerfeministischer Hippie unabsichtlich mit seinen ungewaschenen Füßen auf ihn treten könnte, während er die Kinderroute entlang kraxelt. Bei gutem Wetter hängt Fips gerne draußen ab, zum Beispiel auf dieser lieblos gestalteten Grünfläche nebem dem Bahnhof, zwischen Essensresten, Abfall und Menschen, die dort inkonsequente Schlussmachgespräche führen. Ab und zu macht er sogar längere Spaziergänge, schleicht sich in Luxushotels in Bahnhofsnähe und planscht dort inkognito in viel zu kalten Pools, als wäre er ein Protagonist in so einer schlechten Urlaubstester-Fernsehserie im deutschen Fernsehen aus den 00er Jahren. Hauptsächlich verbringt er jedoch seine Zeit am Bahnhof selbst. Nicht, weil es dort so gemütlich ist, sondern, weil er sich dort gar nicht groß verstecken braucht. Er kann tun und lassen, was er möchte, und geht einfach in der Menschenmenge unter.
In seiner heutigen Form gibt es den Hauptbahnhof noch gar nicht so lange. Als Fips dort aufgewachsen ist, und ich da noch in der Nähe zur Schule gegangen bin, war es dort noch lange nicht so fancy wie heute. Für uns privilegierte Rich Kids war es damals schon hart zu ertragen, dass wir in den Mittagspausen immer extra mit der U1 zum Happy Noodles am Schwedenplatz fahren mussten, wenn wir mal keine Lust mehr auf die fettigen Schnitzelsemmeln vom Schulbuffet hatten.
Davon hätte Fips nur träumen können. Andere Mäuse wurden in der Tierhandlung groß, hatten dort warme, saubere Käfige mit ständig verfügbarem Futter und frischem Wasser und mussten höchstens damit klarkommen, dass kleine Kinder sie ständig beglotzten und mit ihnen spielen wollten. Während Fips sich oft stundenlang im Müll verstecken musste, nur um irgendwann einmal einen Krümel zu ergattern. Fips lernte schnell, dass er ohne List und Cleverness das raue Bahnhofsleben nicht überstehen konnte, also schloss er sich den Ratten an. Durch seine akribischen Beobachtungen lernte er wie die Ratten tickten und sich durchsetzen konnten – sie waren mutig, zäh und gerissen. „Wenn ich so bin, wie sie, dann werde ich es schaffen“, hat sich Fips also schon früh gesagt während er sein weiches, feines Mäusefell gekonnt unter seinem langen, schwarzen Mantel versteckte. „Ich bin Scavo, die Ratte“. Scavo wurde also zu seiner inneren Stimme, die ihm half, jedes Loch zu finden, jeden Winkel des Bahnhofs auszunutzen und nie die Kontrolle zu verlieren.
Manchmal summte er also „Voyou“ von Fauve vor sich hin, wenn er mal wieder alleine auf der Pirsch war und hungrig neben dem Dönerladen Ecke Favoritenstraße warten musste, ob bald Essensreste in den Müll geworfen werden. Gerade in den Winterferien, ohne gierige Schüler*innenmäuler in der Nähe, musste er dort oft stundenlang alleine verharren, bis seine kleinen Mäusefinger selbst unter den Handschuhen komplett durchgeforen waren. Andere konnte er nicht um Unterstützung bitten. Schließlich war er Scavo, die Ratte, und der vertraute niemandem.
© Emma Arafta 2025-02-27