Fischstäbchen im Ozean

Marielle Kreienborg

von Marielle Kreienborg

Story

Vier Jahre alt war er gewesen, als sein Vater ihn zum ersten Mal mit aufs Meer genommen hatte. Um drei Uhr morgens waren sie aufgebrochen: Sein Vater hatte Espresso getrunken und geraucht, Emilio hatte Kekse in die Tasse seines Vaters getaucht. Er mochte das Meer. Hier draußen musste er niemandem etwas beweisen. Das Meer ließ ihn sein, vermittelte ihm die Illusion von Freiheit, verwies ihn zurück auf die eigenen Grenzen. Nichts half wirksamer gegen Größenwahn als regelmäßig das Meer oder die Berge zu bestaunen. Emilio wusste das und er begnügte sich: Zigarette im Mund, Salz auf der Haut, Meer auf der Zunge, Sonne im Gesicht – mehr brauchte er nicht. Mehr brauchte es nicht. „Die Regeln sind einfach“, hatte der Vater dem Sohn in jener bitterkalten Februarnacht erklärt: „Nimm nicht mehr als nachwachsen kann. Verbrauche nicht mehr, als du bewältigst.“ Vieles hatte sich seitdem geändert: Schifferboote reichten nicht. Man hatte Motorboote, legte weite Distanzen zurück und konnte es dennoch nicht mit der Industriefischerei aufnehmen. Der Fang war wetter- und saisonabhängig. Das menschliche Begehren nicht. Alles für alle, bis alles alle war.

Jagen war spaßiger als fangen: „How much is the fish? Woher der kommt und wie der geangelt worden ist, interessiert mich doch nicht. Und ehrlich gesagt: Die Aufregung über Mikroplastik verstehe ich nicht. Das Meer verschmutzt? Ganz sicher nicht. Guck es dir an, wie es glitzert, so glitzert doch getrübtes Meer nicht.“

Emilio schüttelte den Kopf, murmelte Unverständliches im Dialekt. Sollten sie sich illusionieren. Am Ende würde die Natur triumphieren. Emilio baute seinen Verkaufsstand auf, direkt am Hafen, und gegen acht knurrte sein Magen: krude Muscheln zum Frühstück. Die Rohheit der Menschen fürchtete er, die der Weichtiere nicht. Viele sagten: Die Welt sei schlecht. Emilio fand das ungenau, präzisierte: „Manche Menschen sind schlecht. Manche Menschen führen Krieg. Manche Menschen machen Politik. Manche Menschen erhöhen Preise. Manche Menschen gehen über Leichen. Und viele Menschen ahmen manche Menschen nach.“

Zwei Euro fünfzehn für einen Liter Dieselöl. Emilios Boot blieb liegen. Zum ersten Mal seit dreißig Jahren. Seine Kunden klagten: „Kein frischer Fisch, schon seit Tagen.“ Dass Menschen Brot backten in Schutzbunkern, kochten in Kellern, tangierte sie nicht. Mitgefühl war ein Muskel, im Überfluss nicht vorhanden. Faul gefüttert und fett, mangelte Delikatesse. Man betrachtete das Leiden anderer und änderte seine Gewohnheiten nicht. Lieber gewöhnten man sich an die Aussicht, fortan für zwanzig Euro nur noch zehn Liter Benzin zu bekommen. Man beschwerte sich, ignorierte die schreckliche Gleichzeitigkeit von Dingen, negierte, wie alles mit allem zusammenhing. Man schaute auf sich, kleiner Fisch, planlos paddelnd in künstlichen Paradiesen, zufrieden, solange niemand einen jagte.

© Marielle Kreienborg 2022-08-27

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