Flachmann und Flachfrau.

Franz Brunner

von Franz Brunner

Story

Oh mein Gott, sie kommt nĂ€her, macht keinerlei Anstalten, mir auszuweichen. Noch einmal krĂ€ftig einatmen, Luft anhalten und flach an die Wand drĂŒcken. Jahrelanges Yoga, wenn auch nicht sehr intensiv, hilft mir, diese schwierige Situation zu meistern. Liebe Frau, geht das nicht schneller? Als wenn sie meine aufkeimende Panik auskosten möchte, geht sie betont langsam an mir vorbei. Ich sehe sie nicht, denn ich stehe mit dem Gesicht zur Wand und habe die fest Augen geschlossen. Aber ich spĂŒre sie, ihre Schritte, ihren Atem, ja, ihr gesamtes Energiefeld. Nur negative Energie, wie sonst sollte ich sie derart unangenehm empfinden. Nach EinschĂ€tzung ihrer Geschwindigkeit und der verstrichenen Zeit mĂŒsste sie jetzt den Gesetzen der Physik folgend etwa vier Meter an mir vorbei sein, zur Sicherheit atme ich noch dreimal stoßartig aus. Wenn man in der letzten Minute nicht eingeatmet hat, ist diese Leistung durchaus beachtlich. Wie schon erwĂ€hnt, jahrelanges Yoga, sonst ginge das nicht. Ich verdanke meiner Gattin so manches, vor allem mein Wohlbefinden, meine alltagstaugliche Figur und die herzeigbaren Messwerte bei der Gesunden-Untersuchung. Jetzt aber gilt ihr mein besonderer Dank dafĂŒr, dass sie mich dereinst zu meinem ersten Yoga-Seminar schleppte. Ich werd’s ihr heute Abend, wenn ich dieses Abenteuer ĂŒberstanden habe, persönlich flĂŒstern, ich verspreche es.

Ich öffne vorsichtig die Augen, löse in Zeitlupe den Kopf von der Wand und blicke ĂŒber meine linke Schulter den Gang entlang, mein Puls rast ungebremst und mein Kreislauf vollbringt gerade Höchstleistungen. TatsĂ€chlich, der Sicherheitsabstand ist bereits auf einige Meter angewachsen, ich wechsle vom Panik-Modus in den Bereitschafts-Modus. Auf meine Physikkenntnisse und das Kopfrechnen kann ich mich immer noch verlassen, möge Gott mir helfen, den Umgang mit Formeln und Zahlen nie zu verlernen.

Doch was, wenn diese Situationen sich hĂ€ufen, AbstĂ€nde nicht mehr einzuhalten sind und zudem meine Atemtechnik altersbedingt schlechter wird? Ich mag gar nicht daran denken, erneut erwacht Panik in mir. Da kann ich Yoga betreiben, wie ich will, irgendwann werden die bösen Aerosole ĂŒber mich herfallen. Vielleicht sollte ich als Alternative zur Stoßatmung kĂŒnftig zur TĂŒtenrĂŒckatmung wechseln?

Was hat die sich eigentlich dabei gedacht, welcher Teufel hat diese gefĂ€hrliche Frau geritten? Den Mund-Nasen-Schutz unterm Kinn, keuchend mit ihrem Rollator vorbeizutrödeln, so was macht man heutzutage nicht, das ist unverantwortlich. So wie in der Straßenverkehrsordnung festgelegt ist, dass ein FußgĂ€nger den Schutzweg in angemessener Eile zu queren hat, sollte es doch auch möglich sein, fĂŒr das Passieren von Engstellen in öffentlichen GebĂ€uden eine Mindestgeschwindigkeit vorzuschreiben. Weit haben wir’s gebracht, wenn schon fĂŒr den Gang zur Toilette in einem Einkaufszentrum gesetzliche Regelungen notwendig sind, aber fĂŒr mich wĂ€r’s beruhigend.

© Franz Brunner 2021-03-27

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