Flaschengeist

Sonja M. Winkler

von Sonja M. Winkler

Story

Menschen mit einer dunklen Seite gibt es in allen Gesellschaftsschichten. Vielen gelingt es, sie unter Verschluss zu halten wie einen Geist, gefangen in einer Flasche, die sie mit sich herumtragen, ein für die Mitmenschen unsichtbares Requisit. Nur bei näherem Kontakt, wenn sie genügend Vertrauen gefasst haben zum Gegenüber, lockern sie den Korken, denn der Flaschengeist sehnt sich nach Befreiung. So kommt es, dass er in kleinen Luftschwaden nach außen strömt und von Zeit zu Zeit einen Charakterzug offenbart, einen ganz und gar unrühmlichen.

Der Professor war so ein Mensch, und der Dämon setzte ihm zu. Aufgrund seines Geschlechts (männlich) und seiner Position (Lehrstuhl an der Universität) konnte er sich gewisse Übergriffe leisten, und das lange vor #MeToo.

Die Metapher mit dem Flaschengeist passt insofern, als er mir, seiner Studentin, einmal ein abgegriffenes Büchlein in die Hand drückte, mit dem Titel „Aladin und die Wunderlampe“. Ich möge es lesen und ihm berichten. Es war auf Niederländisch. Das muss sich in dem Studienjahr zugetragen haben, als ich zwei Semester lang einen Sprachkurs in Niederländisch belegt hatte, einfach aus Interesse. Ich begann, das Büchlein zu lesen, aber merkte bald, dass es sich bei der Erzählung nicht um das orientalische Märchen aus 1001 Nacht handelte, sondern um eine unverhüllt pornografische Erzählung.

Bei einem meiner nächsten Besuche im Kammerl gab ich dem Professor das Buch zurück mit den Worten, ich hätte verstanden, worum es ging. Nein, nicht zu Ende gelesen, ich fände die Lektüre abstoßend, nicht erregend.

Der Professor stellte indiskrete Fragen bezüglich meines Liebeslebens. Immer tastete er ab, wie ich auf seine Unverschämtheiten reagieren würde. Er war ein Meister der Doppelbotschaften. Einmal, im Winter, ich trug einen Mantel, sagte er, als ich das Kammerl betrat: Zieh dich aus, Sonjutschka. Seine Augen hatten so einen eigenartigen Glanz. Ich erklärte ihm nüchtern den Unterschied zwischen „sich ausziehen“ und „ablegen“. Ich legte ab und hängte den Mantel an den Garderobehaken.

Ich wollte ihn trotzdem als Doktorvater. Er überredete mich jedoch, ich möge mich auf mein zweites Fach konzentrieren. Kurz darauf bot man mir am Institut für Germanistik eine halbe Stelle als „Wissenschaftliche Hilfskraft“ an, worüber ich überglücklich war. Nach der Lehramtsprüfung in Englisch bröckelte unser Kontakt ab, aber hin und wieder kreuzten sich unsere Wege.

Seine letzte Dissertantin war Frau T. Sie war Mitte 50, verheiratet, so hörte ich von den Assistentinnen. Frau T. besuchte den Professor jeden zweiten Tag. Er hatte mit ihr ein Arrangement, das für mich nie in Frage gekommen wäre. Einmal klopfte ich an die Tür zum Kammerl. Ich trat ein. Frau T. sah mich an, als hätte ich die beiden in flagranti ertappt. Der Professor zog sich den Hosenschlitz zu.

Numquam retro, hatte er mir eingeschärft, als Lebensprinzip. Nie mehr zurück. Stimmt. Das Leben muss vorwärts gelebt werden.

© Sonja M. Winkler 2020-07-06

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