Flatterling

Horst Sammet

von Horst Sammet

Story

Ach, ist das mühsam! Stück für Stück knabbere ich mich in die Freiheit und das Loch wird immer größer, womit ich dem Sonnenlicht, welches ich so notwendig brauche, um Lebensenergie zu tanken, langsam näher komme.

Endlich ist es geschafft und ich krieche aus diesem Köcher, der so lange mein zu Hause war. Aus einer häßlichen gefräßigen Raupe verwandle ich mich in einen bunten Schmetterling. Aber warum sagt man eigentlich Schmetterling? Ich flattere doch und schmettere nicht!

Nun sitze ich auf einem kleinen Zweiglein und die Sonnenstrahlen wärmen meinen zarten Körper. Ach, wie gut das tut. Meine Flügel, ein Hauch aus Seide oder Pergamentpapier, falten sich langsam auseinander und ich staune nicht schlecht – boh, sind die groß und so schön bunt. Da will ich doch gleich mal durchstarten und mir eine Blume mit viel Nektar suchen. Schon wieder komme ich ins Grübeln. Woher weiß ich, dass ich Nektar benötige? Das wird wohl irgendwo in den Genen gespeichert sein.

Eine rot leuchtende Blume zieht mich magisch an, schon fahre ich den langen Rüssel aus, um die erste Nahrung aufzunehmen. Die Sonne lacht, der Tag ist wunderschön und ich flattere von Blume zu Blume, werde immer kräftiger und wachse noch ein Stück weiter.

Die Tage vergehen und mein Leben ist perfekt. Eine Rosenhecke weckt mein Interesse und ich flattere dort hin. Da kommt eine Windböe und drückt mich zu einem Holzschuppen. Was ist nun? Mein rechter Flügel sitzt fest, ein silberner klebriger Faden hält mich gefangen. Oje, noch ein Faden und es werden immer mehr. Da sehe ich ein dickes schwarzes Ungetüm auf mich zukommen, sechs Augen mustern mich gierig und eine schaurige Stimme sagt: So ein feiner Leckerbissen, das kommt hier aber selten vor.

Die Spinne will sich schon auf mich stürzen, da greift eine Hand zu, nimmt sie aus dem Netz und setzt sie am Strauch ab. Ich höre die Spinne fürchterlich schimpfen, bin noch ganz benommen von dem Schreck. Ich werde vorsichtig aus dem zerrissenen Netz geholt und in einen kleinen Karton gelegt.

So, denke ich, das war es wohl mit meinem kurzen schönen Flatterling-Leben. Aber da öffnet sich der Deckel, grelles Licht trifft mich und eine Frau holt mich heraus und betrachtet mich. Das ist aber ein ganz seltener Schmetterling, so einen kenne ich nicht, meint die andere Frau, die dazu gekommen ist. Na toll, ob die mich auch fressen wollen?

Ich sehe viele Insekten hinter Glas an der Wand, die mit Nadeln fixiert sind. Wie schrecklich!

Die Frauen breiten meine Flügel aus, reinigen sie von den Spinnweben, machen noch einige Fotos und messen sie aus. Dann werde ich in einen wunderschönen Garten gebracht und sehe hunderte von Faltern.

Viele Menschen besuchen die Schmetterlingshalle im städtischen Botanischen Garten und alle wollen mich sehen und fotografieren. Mein neues Leben hier finde ich wunderschön und es gibt genug Nahrung und ganz wichtig: hier lauern keine gefräßigen Spinnen.

Auch einen Namen haben mir die Menschen gegeben: Evam Paradiso (=EVa + adAM).

© Horst Sammet 2022-04-12

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