Fledermäuse

Hiergeist

von Hiergeist

Story

Mit meinen weißen Stiefeln stehe ich am nebligen Donaukanal und frage mich, weshalb ich wieder und wieder so lange warten will, bis es zu spät ist. Mit Rammstein im Ohr schließe ich die Augen. „In der Tiefe ist es einsam / und so manche Zähre fließt…“ Meine Vergänglichkeit wird mir einmal mehr bewusst, als ich meine ausgefallenen Haare von meinem Mantel zupfe. Ich will nicht länger vertane Chancen bereuen. Ich bin nur einen Schritt davon entfernt ins Wasser zu steigen. „Und so kommt es, dass das Wasser / in den Meeren salzig ist…“

Der Himmel läuft über und an meiner Wange perlt der Regen hinab. Vielleicht ist es aber auch eine Träne, ich weiß es nicht. Aber mir wird klar, dass ich meiner eigenen Weisheiten überdrüssig geworden bin. Ewig im Gestern lebend und nie das Jetzt auskostend. Mit der Zeit habe ich gerungen und sie doch nicht genützt. „Und der Haifisch der hat Tränen / und die laufen vom Gesicht…“

Nur ein letztes Mal will ich in der Nacht verschwinden. Im Takt der Zeit tanzend, mich taumelnd ins Vergessen werfen. „Doch der Haifisch lebt im Wasser / so die Tränen sieht man nicht.“

Und dann bin ich da: Schwarz gekleidet, rote Lippen, weiße Doc’s. Am Eingang gibt man mir eine Spielkarte- Ich soll das Gegenstück finden. Ein Blick auf die Karte und ich muss schmunzeln… „Das passt ja…“ Die Musik zieht mich die Stufen hinab. In der Halbwelt angekommen, bewegt sich mein Körper wie von selbst. Depeche Mode steuert mich fern und ich fühle mich Zuhause. Dicht gedrängt zerfließen Körper ineinander. Ich bin ein Teil davon. Ich löse mich völlig auf.

Und dann bist du da: Eine Fledermaus, genauso schwarz wie ich. Und trotzdem leuchtest du. Ich… sehe dich. Dein ganzes Ich. „Reach out and touch faith…“ Mir bleibt die Luft weg, denn: Ich spiegle mich in dir. Alles verschwimmt. Durch die Menge zieht es mich zu dir. So nah. Zwischen unseren Schuhspitzen nur ein Millimeter. Ich spĂĽre dich. So wie du mich. Um uns herum, alles elektrisch aufgeladen. Ich will in dir versinken. Aus meinem Mund kommt irgendetwas. Und irgendetwas kommt bei dir an. „Eiserne Jungfrau?“, frage ich und halte dir die Spielkarte hin, die ich am Eingang bekommen habe. Du lachst und ziehst mich mit dir zur Bar. Zwei Gin Tonics später weiĂź ich, dass alles perfekt ist. EingehĂĽllt in BĂĽhnennebel vergehen die Stunden und ich möchte in jeder Sekunde auf Repeat drĂĽcken. „Wenn ich jetzt sterbe…“, denke ich. „…hätte ich nichts zu bereuen“.

Es ist der 07. Februar 2020 und keinen Moment zu früh haben wir uns gefunden. Dass nur wenig später die ganze Welt von Corona erschüttert würde, können wir in diesem Moment nicht ahnen.

Während wir durch die Kälte zur U-Bahn stapfen, zieht sich über unser beider Gesichter ein breites Grinsen. Der Zug fährt ein und du drückst mich an dich. Ich atme dich ein letztes Mal für heute ein.

Wir wissen nicht, bei wem wir uns fĂĽr diesen Abend bedanken sollen.

Und so verschwinden wir in die Nacht.

© Hiergeist 2021-02-14

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