Fleischeslust

Sonja M. Winkler

von Sonja M. Winkler

Story

May I? Darf ich? Sie streicht vorsichtig über seinen Bizeps. Blickt auf, sieht ihm in die Augen. May I, wiederholt sie. Er nickt. Yes. Ein Lächeln auf den Lippen, das sagt, dass er ihre Berührung genießt. May I? Für jede Berührung holt sie Erlaubnis ein. Yes, haucht Leo. Ihre Hand gleitet über den nackten Oberkörper, she runs her fingers over his sixpack, gently and slowly, then touches his abs. Wendet sich plötzlich ab. What’s the matter, Nancy?

Scheu und Angst, dieses Gefühl zuzulassen, das sie in diesem Augenblick spürt. Erregung. Arousal.

Als der Film „Good Luck to You, Leo Grande“ bei der Berlinale heuer im Februar vorgestellt wurde, war er ein großer Erfolg, vor allem dank der beiden Hauptdarsteller. Den Namen Daryl McCormack (geboren 1993; er spielt Leo, den Callboy) kann man sich merken. Er ist eine Augenweide, und die routinierte Emma Thompson (Jahrgang 1959) spielt ihn keineswegs an die Wand. Die beiden sind ein umwerfendes Duo. Sie verkörpert Nancy, a 60-year old widow who’s a bit uptight, spielt sie grandios – und vor allem glaubwürdig.

So what’s your fantasy, Nancy, fragt Leo. What would you like? I want … sex, sagt Nancy und reicht ihm eine Liste. Which item do you want to start with?

Bei der Berlinale verrät Emma Thompson (Glitzer- Blazer in Pink), dass es vor den Dreharbeiten zum Film Aufwärmübungen gab. There were several rehearsals, sagt sie, as a kind of warm-up. Die Paar-Übung, die sie in der Folge beschreibt, ruft Erinnerungen in mir wach. Der Boden des Saals war mit Bögen von Packpapier ausgelegt. Ich liege auf dem Rücken. Leo (er hieß natürlich anders) fährt meine Konturen nach, mit einem Stift und färbelt die Körperteile, mit denen ich zufrieden bin, rot an. Blau jene, mit denen ich hadere. Und dann, sagt Emma Thompson, gab es noch Übungen, in denen sie und Leo nackt waren.

Sie spricht über weibliche Scham, die Generationen von Frauen früher anerzogen wurde. Scham, den eigenen Körper als Quelle der Lust zu empfinden. Lust, pleasure and desire.

Ich habe ein neues Wort gelernt.

In der letzten Szene des Films sitzt Nancy an einem Tisch im Foyer des Hotels, in dem die Treffen stattgefunden haben. Ein letztes Mal ist sie verabredet mit Leo, der sie in den vier vorangegangenen Treffen in Sachen Sex (und vielem anderem mehr) unterwiesen hat. Und während sie wartet, erkennt Becky, die junge Kellnerin, Nancy als ihre ehemalige gestrenge Religionslehrerin. Und plötzlich fällt Becky wieder das Wort ein, das Nancy im Unterricht verwendet hat beim Anblick der Miniröcke, die ihr, der Hüterin der Moral, ein Dorn im Auge waren. Concupiscence [kon’kjupisens] schallt es aus beider Munde. Und sie prusten los.

Leo Grande, der eben am Tisch Platz genommen hat, kennt das verstaubte Wort nicht (ich auch nicht), ein Wort, das man nur im katholischen Katechismus findet. Fleischeslust. Thanks for the educational lesson, sagt er.

© Sonja M. Winkler 2022-09-20

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