Fliederblüte

Elisabeth Leeb

von Elisabeth Leeb

Story

Wie jedes Jahr um diese Zeit besuchte ich vor einigen Tagen den Biedermeierfriedhof in St. Marx.Umbrandet von der neuen Zeit, liegt die alte, überwuchert von saftigem Grün, gestürzt am Boden. Dazwischen erheben sich Grabsteine, manche von ihnen von Engeln bewacht, damit sie nicht fallen.Davon unbeeindruckt zwitscherten die Vögel ihr Lied und der Wind trug eine Fliederduftwolke zu mir. Das Rauschen der Natur gegen das Rauschen der Stadt – wer den längeren Atem haben wird, liegt in der Zukunft verborgen. Verborgen, wie so manche Namen auf den behauenen Kalksteinblöcken der Vergangenheit.Ich schlenderte weiter. Von der Sonne beschienen, standen sich die beginnende Fliederwelke und die Hollerblüte gegenüber.Unter einem herabhängenden Fliederzweig schaute mir ein steinerner Grabengel entgegen, der sich pausbäckig und verschmitzt lächelnd über die Grabsteinkante lehnte. Auf dem einfachen Grabstein stand: Elias Parish Alvars 1809 – 1849, Harfenvirtuose. Was für eine Lebensgeschichte mochte wohl dahinter stecken?

Elias war als kleiner Junge zart gebaut und feinsinnig. Seine großen wasserblauen Augen schienen oft in eine andere Welt zu blicken. Er war als taubstummes Kind geboren. Seinen Vater, einen Instrumentenbauer, machte es traurig, dass sein Sohn niemals die wundervollen Klänge der Instrumente vernehmen würde können. Doch Elias liebte es, seine Zeit beim Vater in der Werkstatt zu verbringen. Ihn faszinierten die unterschiedlichen Instrumente, solche mit Saiten zum Zupfen hatten es ihm besonders angetan. Schon früh begann er seine zarten Finger über die Saiten der Harfen zu streichen. Sein Vater beobachtete ihn, wie er dabei seinen Kopf auf den Rahmen der Harfen legte, wahrscheinlich um die Vibrationen zu spüren.Als Elias elf Jahre alt wurde, schenkte sein Vater ihm eine eigens für ihn gefertigte Harfe. Sie hatte am oberen Ende des Holzrahmens eine kleine Mulde für den Kopf seines Sohnes. Elias hüpfte vor Freude durch das ganze Zimmer, bevor er sich hinsetzte und darauf zu spielen begann. Er übte Tag für Tag und der Vater staunte über die großen Fortschritte, die sein Junge machte. Er entlockte der Harfe schon nach kurzer Zeit die schönsten Melodien.Elias wuchs zu einem Mann heran, der sein Leben ganz seinem Harfenspiel verschrieben hatte. Er notierte und komponierte Musikstücke. Seine Hände flogen nur so über die Saiten. Bald hatte Elias sich als Harfenvirtuose einen Namen gemacht.Er hörte mit seinem inneren Ohr die sphärische Musik der Engel und holte diese Klänge mit seinem Spiel auf die Erde. Damit berührte und erfreute er die Menschen. Seine Musik war nicht von dieser Welt. Das hatten sich wohl auch die Engel gedacht, als sie Elias mit 40 Jahren zu sich riefen, damit er für sie dort oben weiterspielen konnte.

Der Lärm des Traktorrasenmähers riss mich aus meinen Gedanken und vertrieb mich für heute aus dem idyllischen Biedermeierfriedhof.

© Elisabeth Leeb 2021-05-08

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