Fliegen mit Kaderli

Hanspeter Gsell

von Hanspeter Gsell

Story

Wir waren uns zuerst nicht einig, welchen der drei Flieger wir in Memmingen besteigen sollten. Da niemand von uns zuvor in Wladiwostok gewesen war, entschieden wir uns für ALI-169. Wir rannten, kaum wurden die Türen zum Vorfeld geöffnet, auf die erstbeste Maschine zu. Dort angekommen, stellten wir fest, dass unsere Plätze bereits besetzt waren. Kaderli blies sich umgehend auf seine doppelte Grösse auf und probte eine Meuterei. Nach einem kurzen Wortgefecht erfolgte der Schiedsspruch:

«ALI-169 aussteigen!», rief eine sichtlich nervöse Flugbegleiterin. «Dies ist ALI-619!» In ALI-169 jedoch standen schon die Passagiere für ALI-96, die fälschlicherweise ALI-769 bestiegen hatten, und zuerst rückwärts hinauskriechen mussten.

Kevin-Albert hatte mittlerweile die verfügbaren Flugnummern addiert, durch die Anzahl der Milchzähne von Sissy dividiert und spielte nun den grossen Macker. «Hier hinein!», schrie er und zeigte mit der Hand auf die versteckt stehende Maschine von Moses-Airline.

Und tatsächlich bestätigte uns der Chefbeduine im Cockpit, dass sein von Allah gesegnetes Flugzeug auf direktem Weg nach Sharm-El-Sheik fliege. Wir stiegen ein, schnallten uns an und legten uns in Ketten. Wir beschlossen, sie erst abzulegen, wenn wir das Rote Meer klar und deutlich sehen würden. Entgegen meiner Befürchtungen verlief der Flug ohne Zwischenfälle, was mich etwas beunruhigte.

Nur einmal kam es zu einem kleinen Intermezzo. Sissy wollte unbedingt mit Barbie und ihrem rosa Kamel spielen. Diese jedoch ruhten sanft im Gepäckabteil, tief im Bauch des Flugzeugs. Sissy dachte nicht im Traum daran, auf ihr Personal zu verzichten und inszenierte ein Riesentheater.

«Hilfe! Hilfe! Ihr habt mein Kamel totgemacht!», tobte sie und ließ sich weder mit Fruchtgummis noch Sauren Zungen ruhigstellen. Als die Flugbegleiterin zu einem Bestechungsversuch mittels Pingu ansetzte, flippte Sissy vollends aus. Sie schmiss das Vieh im hohen Bogen durch die Kabine, riss sich ein Büschel Haare aus und biss der Stewardess in den Finger. Erst der große Beduine aus dem Cockpit konnte die Motzliese beruhigen.

«Du musst nicht traurig sein. Das rosa Kamel ist im Kamelhimmel und blickt jetzt auf dich herunter. Willst du es sehen?», fragte er.

«Ja! Kamel sehen!», antwortete sie und folgte ihm in das Cockpit. Dort übten sie zusammen tolle Kunstflugfiguren.

Erst als alle Kotztüten gefüllt waren, hatte Sissy genug und kam freudestrahlend zurück. Es gibt doch nichts Schöneres als glückliche Kinderaugen!

Sonst verlief der Flug ereignislos. Ägypten, wir kommen!

(Foto: inma Santiago, unsplash)

© Hanspeter Gsell 2021-03-11

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