von Janka
Ich habe das subtile Quietschen meines Schreibtischstuhls im Ohr, auf dem ich im Schneidersitz hocke. Beide Hände stützen sich an der Tischplatte ab, geben die Richtung vor. Ich drehe im langsamen Tempo Halbkreise von rechts nach links und wieder zurück.
Ich blicke aus dem Fenster, starre Löcher in die Luft, bin auf der Suche nach fliegenden Wörtern.
Dabei sind sie schon da, sind überall, die Wörter, die fliegenden Wörter, schwirren umher und kitzeln vorwitzig meine Nasenspitze. Sie warten ungeduldig darauf, eingefangen und auf einem Stück Papier verewigt zu werden.
Fliegende Wörter sind Vorboten unerzählter Geschichten, die hinter jeder Ecke lauern. Sie lassen die Wörter entwischen, manchmal auch nur einen flüchtigen Duft oder eine leise Melodie, sie werfen sie in die Höhe wie verirrte Brieftauben. Wenn ich ganz genau hinsehe, aufmerksam lausche, dann offenbart sich mir manch ein fliegendes Wort.
So wie dort, schau, ein Rotkehlchen auf dem Ast, fast zu schwer, er wird gleich unter dem Vogel nachgeben. Eine Sekunde später ist das Rotkehlchen schon wieder verschwunden und hinterlässt einen leeren Rahmen, als wäre es niemals dort gewesen.
Höre ich in der Ferne die Feuersirene? Sorgenfalten auf der Stirn: Hoffentlich ist nichts Schlimmes passiert.
Im Hausflur duftet es mal wieder nach Bolognese, die hat bestimmt die Nachbarin gekocht. Allen Bewohnern des Hauses, nicht nur mir, läuft das Wasser im Mund zusammen.
Wenn ich jetzt beharrlich bin und geduldig dazu, sich meine Fantasie mit den fliegenden Wörtern verbündet, dann locke ich mit etwas Glück sogar die widerspenstigen, unerzählten Geschichten hinter ihren Ecken hervor. Vielleicht die Geschichte von dem kleinen Jungen, der gerade die ersten Meter ganz allein auf dem klapprigen Rad seiner großen Schwester gefahren ist – stolz wie Oskar. Ein Liebesgedicht erzählt von dem Mädchen, das dort hinten durch den Park läuft. Sie trägt eine Jeansjacke und ist auf dem Weg zum ersten Rendezvous mit ihrem Arbeitskollegen. Dürfen wir auf ein Happy End hoffen? Und die alte Dame auf der Bank, sie hat bestimmt ein riesiges Bündel verborgener Geschichten dabei, trägt sie in ihrem blauen Einkaufskorb umher wie die Äpfel vom Markt.
All diese Geschichten, Gedichte, Abenteuer, sie sind es wert, erzählt zu werden. Man muss nur Ausschau halten, nach den fliegenden Wörtern.
© Janka 2021-04-27