von Carina Ewers
Müde sah sie aus. Ihr Spiegelbild zeigte Augenringe, die ihr mindestens bis in die Kniekehlen hingen und ihr Haar war zerzaust und man sah ihm leider an, dass sie heute morgen mit Trockenshampoo überbrückt hatte. Sie war schlicht zu müde gewesen, um unter die Dusche zu springen.
Immer öfter hatte sie das Gefühl, dass ihr alles über den Kopf wuchs. Dass sie es nicht mehr händeln konnte. Es. Ihr Leben.
Wie zur Hölle schafften das Kolleginnen, die auch noch Kinder und Ehemann zuhause versorgten?
Florentine seufzte, ließ Wasser in ihre Handflächen laufen und warf das Wasser dann beherzt in ihr Gesicht. Noch vier Stunden. Dann hatte sie zumindest das Glück, dass sie das Schulgebäude verlassen konnte. Damit war ihr Job für den Tag lange nicht getan, auch wenn Freunde und Verwandte sie damit immer wieder aufzogen. Lehrkräfte haben vormittags Recht und nachmittags frei. Pah! Dass sie nicht lachte.
Niemand, der diesen Satz sagte, hatte jemals als Lehrkraft gearbeitet. Florentine konnte nicht mal mehr an einer Hand abzählen, wie viele Elterngespräche sie in dieser Woche bereits geführt hatte. Alle im selben Themenkomplex: Die Kinder waren alle kleine Genies. Sie – die unfähige Lehrerin – hatte dies bloß noch nicht erkannt. Fehlverhalten wurde heruntergespielt. Frechheiten ihr gegenüber legitimiert. So war das nun mal.
Sie liebte ihren Job. Liebte es, die Jugendlichen zu begleiten, zu sehen, was aus ihnen wurde. Wie sie sich selbst fanden und verwirklichten. Dazu gehörte Testen von Grenzen. Ausprobieren. Scheiße bauen. Ohne Frage.
Junge Menschen musste man manchmal auch einfach machen lassen… dann leuchteten sie am hellsten und am zuverlässigsten.
Aber was, wenn man über das Leuchtenlassen der Jugendlichen sein eigenes Leuchten verlor?
Sehr strahlend sah sie jedenfalls nicht aus. Sie klopfte sich mit den flachen Handflächen auf die Wangen, um sie ein wenig rosiger zu bekommen, als die Klingel den Beginn der nächsten Stunde verkündete. Ihr Herz setzte kurz aus, sie warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel und hechtete dann aus dem „Wc für alle“, um erneut mit breitesten Fake-Lächeln Arbeitsaufträge zu verteilen und sich den „Frau Ernst“-Rufen hinzugeben.
© Carina Ewers 2022-08-31