von Gigi InSilence
Möglich, dass der November nur deshalb den Regen mit sich bringt, damit er unsere verzweifelten Tränen der Trauer verbirgt und uns in unserer kläglichen Spätherbst-Melancholie ein Versteck bietet – das heimtückische Versteck der Isolation. Der November kennt die vielen Nuancen des Schmerzes, die Graustufen der Melancholie, den Frequenzreichtum meiner stummen Schreie. Wie ein willenloser Zombie wandle ich im fahlen Licht der Straßenlaternen. Was hält mich in diesen dunkelsten Nächten eigentlich am Leben?
Der Scotch schmeckt nach uns. Er schmeckt nach deinen Küssen an einem Freitagabend in unserer Stammkneipe. Er schmeckt nach Nähe und Intimität. Nach Liebesrausch und elektrisierenden Nächten. Küsse in unserem Badezimmer auf dem Duschvorleger, Küsse in unserer Küche, Küsse an einem Sommerabend in Florenz. Feurige Küsse in der aufgeheizten Mansardenwohnung im Dachgeschoss mit Ausblick auf die Dächer der Stadt. Florentinische Küsse. Der Novemberwind weht herein und in seinem Pfeifen höre ich die lieblichen Melodien des Südens, zu denen wir einst unterm toskanischen Himmel tanzten. Der Sommer schreibt die süßesten Geschichten, der November die schmerzhaftesten. Ein fernes Flüstern deiner Stimme getragen vom nasskalten Wind. Ich gehe näher ans offene Fenster heran, um deine Nähe zu spüren, deinen Duft einzuatmen. Ich spüre, wie sich deine Haut schützend an die Meine schmiegt, wie sich mein ängstliches Herz dem Takt deines Herzens anpasst … irgendwann erklingen dieselben sanften Melodien in unseren Herzen und wir wagen Kompositionen in zauberhafter Polyfonie. Unsere sinnlich-süßen, bisweilen wilden, stürmischen und spannungsgeladen Sinfonien stillen unseren Hunger nach Zärtlichkeit, wobei du die anmutig-zarten Saiten meiner Harfe schwingst. Voller Hingabe erleben wir dieses leidenschaftliche Feuerwerk der Liebe in der deine wild-lodernden Flammen meinen Körper durchdringen, ein Feuerwerk, das in einer überwältigenden Erschütterung unserer vereinigten Welten mündet. Wie Ebbe und Flut überkommen uns diese magischen Momente der Leidenschaft, in denen unsere Welten verschmelzen. Eine Magie steckt in unseren Liebeskompositionen, die uns faszinieren, berauschen, zu schnell verlieren wir uns im intimen Feuer des Begehrens.
Dein Bart kitzelt an meiner Wange, als die florentinische Morgensonne durch die Fenster der Mansardenwohnung scheint und wir uns voller Vorfreude unseren unbeschwerten Fantasien des kommenden Tages hingeben. Ich erhasche einen letzten Blick auf dein zerzaustes Haar, bevor du in die Küche verschwindest, um die Wohnung kurze Zeit später in einen behaglichen Duft von Espresso zu tauchen. So riecht der italienische Sommer, so riecht das „Wir“ – flüchtig, temporär, und doch prägend. Ich spüre in diese kurzen Pulsschläge der Lebendigkeit hinein. Schwache Stromschläge einer vergangenen Liebe, Bruchstücke in meinem Gedächtnis. Das Feuer erlischt im November. Nur eine leichte Glut, gespeist aus fernen Erinnerungen der Liebe und des Südens, hält mich an diesen trüben Tagen am Leben. Und unsere angefangene Flasche Scotch. So schmeckte einst das „Wir“.
© Gigi InSilence 2023-10-30