von Svenja Goldmann
Ich wurde älter und kaum war mein sechstes Lebensjahr angebrochen, begannen die Schmerzen in meinem Rücken. Erst war es nicht mehr als ein einfaches Ziepen, doch es blieb nicht dabei. Es steigerte sich bis zu dem Punkt, an dem ich mich Nacht für Nacht in dem Armen meiner Mutter in den Schlaf weinte. Glücklicherweise war es an den meisten Tagen aushaltbar und ich tigerte weiterhin mit Trym durch die Wälder. Wir erdachten uns die fiesen kleinen Gestalten, Schattenkriecher, die in unserer Vorstellung die Ursache meiner Schmerzen waren. Immer wieder aufs Neue versuchten wir sie auf heldenhafteweise in die Flucht zu schlagen, sodass sie nachts nicht mehr wieder kamen. Selten waren wir erfolgreich.
Doch eines Tages waren sie weg. Ich erwachte ohne sie. Ohne das drückende Gefühl als berste meine Haut jeden Moment, doch dafür in meinem eigenen Blut getränkt. Der Ansatz von kleinen Flügeln hatte sich durch die Haut meiner Schulterblätter gestoßen. Zusammen mit feinen, graubraunen Federn an meinem hinteren Hals, den Schultern und dem Rücken.
Dies hätte der Anfang sein können von Orraa Gel Zooh’k. Der Anfang mein volles Ich zu entfalten, doch dem war ich mir damals in meinen noch so jungen Jahren nicht bewusst. Ich war aufgeregt. Doch als ich das Grauen in den Augen meiner Mutter sah, hatte auch ich panische Angst. Angst vor dem Schattenkriecher, der begann, sich aus meinem Körper zu pellen. Ihr und mein Weg sollte nicht so einfach sein, wie sie es sich erhofft hatte.
Ab diesem Zeitpunkt war ich verloren. Verloren zwischen zwei Welten. Ein Teil von nichts. Mutter begann mich zu verstecken. Sie behielt mich bei ihr im Haus und ließ mich nicht mehr mit den anderen Kindern spielen. Hielt mich fern von Trym, der immer und immer wieder nach mir fragte. Manchmal konnte ich ihn vor unserem Haus patrouillieren sehen, als wollte er mich weiter vor den boshaften Gestalten beschützen. Doch irgendwann kam er nicht wieder. Ich weiß nun, dass Mutter versuchte, mich und vermutlich auch sich selbst zu beschützen, aber es tat weh.
Sie band meine Flügel, die ständig weiter wuchsen, fest an meinen Körper. Gab ihr bestes, sie unter Kleidung zu verstecken und weiter so zu tun, als würde meine zweite Hälfte nicht bestehen. Mein Vater wurde in diesen Jahren totgeschwiegen und all die Dinge, die sie mir zuvor so fleißig beigebracht hatte, wurden mit keinem Wort erwähnt. Als würde jedes geflüsterte Wort über meine Herkunft das Aarakocrablut in meinen Adern dazu bringen, den menschlichen Teil auszurotten. Nichtsdestotrotz war ich neugierig. Jede Möglichkeit wurde genutzt, um die werdenden Flügel auf meinem Rücken zu begutachten. Ich versuchte sie zu spüren. Sie zu bewegen und mit jedem Zucken, das ich schaffte, durch diesen Teil meines Körpers zu schicken, fühlte ich etwas in mir aufbrodeln. Es war ein Verlangen. Das Verlangen, meine Flügel auszubreiten und so weit zu fliegen, wie es mir möglich war. Ab diesem Moment bedeutete nichts mehr Freiheit als diese Flügel.
© Svenja Goldmann 2022-08-29