von Ulrike Nikolai
Der erste Schultag nach den Sommerferien. Ich habe vor längerer Zeit diesen Tag mit einer besonderen Mathestunde in Klasse 4 bereits gut vorbereitet, muss nur in der Schule meine Vorbereitung aus einem Aktenordner holen. Ich erwarte Unterrichtsbesuch vom Schulamt. Die Schüler sitzen im Klassenraum, der merkwürdig dunkel ist. Ich will beginnen. Der Besuch ist noch nicht da. Also fange ich einfach schon mal an. Irgendwann kommt die erwartete Person mit fliegenden Fahnen ins Klassenzimmer und setzt sich hinten hin, entschuldigt sich und behelligt mich nicht weiter. Ich kenne die Person, bzw. die PersonEN. Mal ist es ein Fachleiter aus meinem Studienfach Mathematik, dann eine Physiotherapeutin, die mir immer erzählt hat, sie wolle Lehrerin werden. Alles läuft etwas chaotisch, weil mir wichtiges Material (Waagen zum Experimentieren) noch fehlt. Ich bitte einen Schüler, mit mir zum Materialraum zu kommen. Der Weg ist labyrinthartig. Wir kommen nie dort an. Ich bin kurz vorm Durchdrehen, doch in dem Moment fällt mir etwas Fantastisches ein: Niemand weiß, dass ich an diesem Tag überhaupt nicht zum Dienst kommen musste. Ich hatte es völlig vergessen: Es ist ja der erste Tag meiner Pensionszeit! Innerlich bekomme ich einen Lachanfall: Ha … ich kann jetzt einfach totalen Blödsinn machen in der Besuchsstunde – und es ist völlig egal, wie das Urteil ausfällt! Es wird mich überhaupt nicht tangieren. ICH BIN VOGELFREI! Nach ein paar Irrungen und Wirrungen durchs Schulgebäude sage ich dem Schüler, wir würden in die Klasse zurückgehen, es sei eh gleich Frühstückspause. Ich sage ihm noch, dass wir das mit den Waagen in der nächsten Mathestunde machen würden. Pustekuchen – ha! Dann gehe ich zurück in die Klasse, der Besuch sitzt immer noch da und blättert in meinen Vorbereitungspapieren. Anerkennend schaut die Person zu mir hoch. Es ist mir völlig schnuppe, aber es ist auch okay so. Dann gehen die Schüler auf den Schulhof und ich ins Lehrerzimmer. Dort steht eine Amtsperson vom Schulamt mit meiner Pensionsurkunde in der Hand. Ich mag keine großen Abschiedsrituale und sage ihr, sie könne mir die Urkunde einfach geben, was sie dann auch tut. Andere Kolleginnen bekommen nichts mit. Ich denke: Juhu, ich kann jetzt einfach gehen – und weg bin ich dann. Aber von meinen Schülern will ich mich noch verabschieden. Ich gehe nach der Pause wieder in die Klasse. Ich erkläre den Kindern, dass dies mein letzter Schultag ist und ich in den Ruhestand gehe. Neben mir steht eine junge Lehrerin und ich stelle sie als meine Nachfolgerin vor. Die Kinder begreifen es gar nicht so schnell, nehmen es erstmal so hin. Ich gehe zur Klassentür, drehe mich noch einmal um und winke. Dann verlasse ich leichtfüßig die Schule und freue mich auf die neue Freiheit. Dass es sonst niemand weiß, amüsiert mich immer noch. Ich verlasse eine für mich abgeschlossene Welt, die in einem anderen Raum hinter mir bleibt und nie wieder von mir betreten wird. Eigentlich ist es wie Tod und Neugeburt. Es fühlt sich super an! Diese Weite! Diese völlige Eigenverantwortung. Dieser offene Neubeginn! Ich drehe mich noch einmal um und sehe die Schule von außen. Nanu? Ich blicke auf den Neubau des Gymnasiums, das ich selbst als Schülerin besucht habe. Beim Anblick dieses Gebäudes kommt ganz kurz nochmal ein Gefühl in mir hoch: Das Gebäude fühlt sich an wie eine Zwangsjacke, von der ich endlich frei bin!
© Ulrike Nikolai 2025-04-24