von Katrin Lindner
Ich sitze am Bahnhof in Rodenkirchen auf dem Boden und warte auf meinen kleinen Bruder (der immer noch klein ist, aber nicht mehr so klein wie vor zehn Jahren, als du ihn das letzte Mal gesehen hast). Irgendwas in mir wartet aber nicht nur auf ihn, sondern auch auf dich. Immer noch. Ich weiß ja, dass du nicht kommen wirst. Weil du tot bist. Aber da ist etwas in mir … call it Hoffnung … ich wäre jedenfalls nicht überrascht, wenn deine Fresse plötzlich vor mir stünde, auf mich herabgrinsen und sagen würde: „Tach, Genosse!“ (Ich würde dir dann vielleicht eine reinhauen und schreien: „Alter, lass mich nie mehr zehn Jahre lang allein, du Arsch!!“)
Der mittlerweile Einzige aus deiner Familie, den ich hier wirklich treffen könnte, ist dein in die Jahre gekommener Vater. Die anderen sind alle fort. Aber ob ich ihn treffen will, weiß ich nicht so recht. Ich bin mir sicher, dass er immer noch stinksauer auf mich ist, weil ich mich damals einfach verpisst habe, obwohl deine Mutter mich gebraucht hat. Aber als sie so viel getrunken und dann eines Abends versucht hat, sich ein Messer in die Brust zu rammen, da gingen bei mir die Lichter aus. Ich konnte das nicht nochmal mitmachen, wenn du verstehst, was ich meine.
Na ja, deine Mutter ist jetzt auch weg. Und ich sitze auf dem Boden an der Haltestelle Rodenkirchen Bahnhof und warte auf meinen Bruder. Es ist Sommer, wir wollen zum Forstbotanischen Garten, uns die Pfauen angucken. Ich vermisse dich ein bisschen. Wenn du mich sehen könntest, würdest du mich gleich erkennen: Ich bin derselbe Hippie wie früher, nur etwas älter. Und trauriger …
Zeit für einen Song aus den lebensbejahenden 90ern! (Die und Blur hast du gefeiert, als ich noch dachte, dass in den 90ern die Musik offiziell ermordet und begraben wurde). Wie gut, dass ich meine Kopfhörer mitgenommen habe. Jetzt kann ich erstmal Mucke aufdrehen und die Leute, die Sonne und die Welt ausblenden, die seit Jahren die Dreistigkeit besitzt, sich einfach weiterzudrehen, als wenn nichts gewesen wäre.
Komisch, dass du und ich nie zusammen im Forstbotanischen Garten spazieren gegangen sind. Noch komischer, dass wir nicht einmal darüber nachgedacht haben. Der liegt doch quasi direkt vor deiner Haustür! Vor vielen Jahren im Frühling war ich mit deiner Mutter mal da gewesen. Aber das ist lange her. Wir haben damals leider keine Pfauen gesehen. Das war in einem anderen Leben.
(Wie viele Leben kann man eigentlich haben? Und wie oft wird man wiedergeboren, bis man für immer stirbt? Und wo in dem Prozess bist du gerade?)
Da kommt mein Bruder. Ich versuche jetzt mal, das Beste aus dem Tag zu machen. Wenn du uns im Forstbotanischen Garten irgendwo zwischen den Rhododendren begegnen solltest, werde ich dir winken. Du darfst dich uns dann gerne anschließen. Ich könnte dir auch eine Geschichte erzählen, wenn du magst, sogar eine über Katzen. Aber nur, wenn du versprichst, nicht wieder abzuhauen. Ich mein’s ernst!
Dein*e Leni
© Katrin Lindner 2023-05-30