Einmal war ’s besonders toll. Eine Reisegruppe aus einer sowjetischen Unionsrepublik mit Teeanbau war da – alle gut gebräunt, Männer mit bunten Käppchen, Frauen mit schönen, farbigen Kleidern, wahrscheinlich echte Seide. Einige bestellten Tee. Er kam wie bei uns üblich – heißes Wasser mit Teebeutel drin. Ich werde nie vergessen, wie eine Frau in ihrem Glas rührte, als der Tee genug gezogen hatte. Sie kostete, verzog das Gesicht, einen stärkeren Geschmack gewöhnt. Für sie war das wohl wie Abwaschwasser. Nach dem Essen sangen sie vollmundig Volkslieder ihrer Heimat. Für unsere „Freunde“, wie sie zu DDR-Zeiten bezeichnet wurden, gehört das zur Lebenskultur. Wir wussten nicht, wo wir hingucken sollten, denn wir hatten gar keinen Konzertzuschlag bezahlt, wie bei Elbschifffahrten, wenn eine Kapelle spielte! So etwas erlebt man nicht alle Tage.
Spezialität des Hauses: Teufelskerl – eine Scheibe Weißbrot, belegt mit Deutschem Beefsteak und Spiegelei, übergossen mit Letscho. Letzteres war Mangelware. Was war nicht knapp! Im Lokal war öfters Herrengedeck im Angebot: eine kleine Flasche Sekt (bei Ehepaaren bekam diesen meistens die Dame), eine Flasche Radeberger. Wanderer kamen des Wegs, sahen das Radeberger Bier und fragten danach. Antwort des Obers: Nur als Herrengedeck! Reaktion: lange Gesichter. Vor dem „Waldhäus’l“ war in der Hauptsaison ein aus allen Richtungen erreichbares Freiluftlokal. Daneben führt eine Treppe unmittelbar zur Straßenbahnhaltestelle hinunter. Wir betraten und verließen das Restaurant meist über einen Weg, der durch ein Wäldchen führt. Man kam auch über eine schräge Ebene auf die Fahrstraße, vorbei am zuweilen „duftenden“ Müllplatz der Gaststätte; und erreichte nach wenigen Schritten das Straßenbahndepot. An einem schönen Sommernachmittag nahm ich in der Freiluftgaststätte unter Sonnenschirmen Platz. Vati ging kurz nach drinnen. Der Ober kam an den Tisch und sagte, im Garten würde nicht bedient. Ich möge mich ins Lokal bemühen. Und das bei dem herrlichen Wetter! Wir konnten es nicht fassen. Nicht nur hier kam es vor, dass die den ganzen Tag auf den Tischen stehende Kondensmilch sauer war – bei Sommertemperaturen logisch. Oft, nicht nur hier, musste man den Ober um die Speisenkarte bitten oder sie von einem Nachbartisch holen. Allgemein bekannt war: Mit einem X versehene Gerichte sind ausverkauft. Seit der Wende kommen riesige Speisenkarten, kaum dass man Platz genommen hat, und werden nach der Bestellung wieder mitgenommen. Man wüsste sonst nicht, wohin mit den Tellern. Einmal bestellten wir im „Waldhäus’l“ als Nachspeise zum meist dort begangenen Urlaubsausklang Ananas mit Sahne. Die Fruchtstücke waren zu groß, um sie in den Mund zu schieben. Wir kamen nur Plastiklöffel. Der Druck beim Zerteilen war zu groß. Ein Löffel überlebte das nicht. Die Bruchstücke überdeckten wir mit Sahne. Der Kellner merkte beim Abräumen nichts. In der Küche war nicht mehr feststellbar, wessen Geschirr es war.
2012 war ich mit meinem Partner zum Kurzbesuch in der Stadt. Das obige Lokal betrieb eine tschechische Familie. Vor der Tür stand ein Cabrio mit einem Aufkleber am Heck „Vorübergehend geschlossen!“
© Annemarie Baumgarten 2024-04-30