Am Ende seiner Rede verlässt der erste Bürgermeister der Stadt Hamburg die Bühne und nimmt neben meinem Schützling Platz. Kinder formieren sich erneut zum Singen. Ich lasse meinen Blick durch den Saal schweifen. Während des Gesprächs mit meiner Sitznachbarin war mir entgangen, wie sich der große Raum gefüllt hat. Es müssen um die 900 Personen sein, die der Einbürgerungs-Zeremonie beiwohnen. Ich bin beeindruckt. Nach einem gesungenen Hamburg Medley schreitet der Bürgermeister erneut auf die Bühne. Eine Mappe wird ihm gereicht. Es ist einem kleinen Kreis von Menschen vorbehalten ihre Einbürgerungsurkunde in dieser Öffentlichkeit überreicht zu bekommen. Masoud betritt als Dritter die Bühne. Zu ihm gesellen sich zehn Frauen. Dem letzten Aufruf folgt ein älterer Herr. Dem Namen zufolge handelt es sich um einen Engländer. Ich denke an die Zeit des Brexits. Viele in Hamburg und in Deutschland lebende Engländer nahmen dies zum Anlass die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen. Welchen Beweggrund könnte er gehabt haben?
Der kleine Staatsakt auf der Bühne ist beendet. Nun beginnt der begehrte Foto-Termin mit dem Bürgermeister. Masoud reckt den Kopf und gibt mir zu verstehen, ich möge nach vorn kommen. Ohne seine Hilfe und die eines Saaldieners wäre es mir nicht geglückt, mich durch die Dichte wartender Menschen zu drängeln. Alle gruppieren sich im Mittelgang. Jeder will mit dem Oberhaupt unserer Stadt abgelichtet werden. Nachdem wir es geschafft haben, werden wir in den angrenzenden Kaisersaal gebeten. Tabletts werden uns entgegen gereicht. Wir können zwischen Getränken wählen und uns mit kleinen mundgerechten Happen verwöhnen.
Mein Schützling ist sichtlich ergriffen. Ich bin es auch. Ich kenne seine Geschichte. Mir ist bewusst, was sich in seinem Kopf abspielen muss. Schlepper hatten ihn von den Eltern und Geschwistern getrennt, als sie im Herbst 2015 Afghanistan verließen. Mithilfe fremder Menschen wanderte der Junge vom Iran in die Türkei. Über die Balkanroute und durch Österreich gelangte er schließlich nach Deutschland. Die verloren geglaubten Eltern und Geschwister fand er durch einen glücklichen Zufall später wieder. Sie leben im Iran. Mein Schützling hat sie inzwischen zweimal besucht.
Bevor wir gehen gelingt uns noch ein Gespräch mit dem Engländer. Nach 55 Jahren in Deutschland fand er es an der Zeit deutscher Staatsbürger zu werden.
© Dagmar Lücke-Neumann 2025-01-07