Jene Kulturen, die glauben, Fotos würden den Menschen die Seele stehlen, haben meiner Meinung nach durchaus recht, denn obwohl ich ein “Augenmensch” bin und eine sehr enge Beziehung zu Farben und Malerei habe, habe ich eine nahezu archaische Scheu vor Fotos von Menschen. Das ist mir zu “nackt”, wenn da jemand aus dem Bild herausschaut, und das gilt bei mir sogar ein wenig für Familienmitglieder. Eine Galerie von Familienbildern gibt es bei mir nicht.
Das Schlimmste aber sind Fotos von mir selbst. Ich hasse es fotografiert zu werden, ich finde mich auf jedem Foto schrecklich und niemals würde ich ein Selfie machen oder ein solches gar freiwillig verbreiten. Sobald sich mir jemand in der Absicht nähert mich zu fotografieren, entsteht in mir eine innere Abwehr, ja geradezu eine Aggression in einem Ausmaß, das ich sonst nicht kenne. Und bei Gruppenfotos bin ich diejenige, die sich in der letzten Reihe hinter der größten und dicksten Person versteckt.
Diese Fotoscheu habe ich von meiner Großmutter sozusagen “geerbt”. Meine Großmutter war eine durchaus gut aussehende Frau, aber wirklich total unfotogen. Sie sah auf Fotos immer weit weniger gut aus als in der Realität, ja oftmals war sie gar nicht zu erkennen. So habe ich ein von einem Profifotografen gemachtes Bild, auf dem meine Urgroßmutter mit ihren neun Töchtern zu sehen ist. Die Urgroßmutter, die ich persönlich nicht mehr kannte, ist die alte Dame in der Mitte, und auch alle acht Großtanten erkenne ich problemlos. Die eine Frau auf dem Foto aber, die mir unbekannt ist, ist meine Großmutter, die ich tagtäglich gesehen habe. Die Abneigung meiner Großmutter gegen ihre Fotos ging so weit, dass sie oft die Hälfte abgerissen hat. Es gibt sogar Fotos mit Loch, wo sie ihr Gesicht herausgeschnitten hat.
Natürlich ist das Ganze auch ein Wechselspiel, denn wenn man sich beim Fotografiertwerden nicht wohlfühlt, versteift man sich und durch diese Abwehr muss es zwangsläufig misslingen. Wenn man die Kamera nicht liebt, liebt sie einen auch nicht zurück. Und bekanntlich gibt es auch den gegenteiligen Fall, wo gar nicht so hübsche Menschen auf Fotos weitaus besser aussehen.
Diese Einstellung meiner Großmutter hat sich wohl auf mich übertragen und genau wie sie bin ich ebenfalls total unfotogen, obwohl ich ihr gar nicht ähnlich sehe. Auch ich bin in Wirklichkeit viel schöner und das meine ich total ernst oder bilde es mir zumindest ein. Ich gehe zwar nicht so weit, dass ich meine Fotos zerstöre, aber ich vermeide es sie anzusehen, und am liebsten ist es mir, wenn sie überhaupt gleich gar nicht entstehen. So gibt es sehr wenige Fotos von mir. Wir machen ein paar Aufnahmen zu Weihnachten und zum Geburtstag unseres Sohnes, manchmal eine Art “Beweisfoto” auf Reisen.
Aber ich kenne kein Foto von mir, auf dem ich mich wirklich “abgebildet” finde. Ich sehe eine Fremde, mit der mich nichts verbindet und die eine andere ist als jene, die mir aus den zahlreichen großen Spiegeln in meiner Wohnung entgegenblickt.
© 2022-09-21