Fragment 2: Farbe

Gabriele Weissenegger

von Gabriele Weissenegger

Story

Johannas Bilder hängen in unserer Wohnung und auch im Haus meiner Eltern. Sie konnte sehr gut malen. Nicht auf die beschauliche Art, wie man das typischerweise von einer Oma erwarten könnte. Blumen und Katzen malt sie nie. Johanna malt expressiv und abstrakt. Schon in den 80er-Jahren besucht sie Mal-Retreats in ganz Österreich, die damals sicher noch nicht so geheißen haben, aber im Grunde genau das waren. Es gibt Fotos von ihr vor der Staffelei. Geras, 1986 steht auf der Rückseite. Sie experimentiert mit Farben und Materialien, benutzt Haushaltsgegenstände wie Kämme oder Materialien aus dem Baumarkt, um ihren Gemälden Strukturen zu verleihen. Sie hat keinen Wunsch nach Öffentlichkeit, nach Anerkennung, sie will auch keine Bilder verkaufen. Nur wir, ihre Familie, wir sollen die Bilder immer sehen. Meine Bewunderung für ihre Einstellung ist grenzenlos. L’art pour l’art. Malen, weil es einem gefällt. Bei einer Schulbildung, in der Leidenschaft zu Leistungsdruck und Freude zu Frust wird, bei der gemalte Kinderbilder von den Lehrkräften wortwörtlich in „super“, „schirch“ und „noch schircher“ eingeteilt werden, ist und bleibt meine eigentliche Lehrmeisterin: Johanna.

„Ich habe was Neues gemalt“, sagt sie, wenn wir sie besuchen kommen. „Wollt’s ihr es sehen?“

Nach dem Tod von Fritz und dem Auszug aus dem Haus in Kärnten wechselt Johanna oft den Wohnort. Von unserer ehemaligen Wohnung über der Apotheke in eine Wohnung hoch oben in einer Wohnsiedlung und wieder zurück in die Wohnung oberhalb der Apotheke. Es hält sie nicht lange. Bei keiner ihrer Wohnorte gibt es etwas, das grundsätzlich falsch wäre. Aber Johanna sucht etwas, das sie in keiner Wohnung finden kann.

Später, als sie ihren Alltag nicht mehr alleine bewältigen kann, zieht sie in eine Seniorenresidenz. Hier in Wien, ganz nahe von mir.

Ich selbst ziehe in meinen Zwanzigern von Wien nach Spanien nach Wien nach Graz nach Zagreb nach Wien nach Prag nach Wien. Auch mich hält lange nichts an einem Ort.

Dann, Jahre später, machen wir meine Wohnung in Wien zu einem Zuhause, und ich hänge mein Vagabundenleben an den Nagel und Johannas Bilder an die Wand. Es hat lange gedauert, aber es fühlt sich gut an, zu Hause zu sein.

© Gabriele Weissenegger 2021-06-19