Frau Lehrerin, schreiben Sie die Arbeit?

Cristina Baglio

von Cristina Baglio

Story

Teil 1
7:40 Uhr – Ich komme zu spät zu meinem eigenen Unterricht. Kommen Lehrkräfte nicht immer pünktlich, weil sich das so gehört und weil sie sich immer vorbildlich verhalten? Vorbildlich war das mehrmalige Wiederholen des Weckers und die extra Kuscheleinheit mit meinem Hund sicher nicht. Gefrühstückt habe ich auch nicht – wie auch, wenn ich doch zu der Zeit schon längst im Auto sitzen musste. Gedanklich bin ich überall. Heute Morgen plagte mich bereits ein flaues Gefühl im Magen. Meine Schüler:innen schreiben heute eine Arbeit. Habe ich sie gut genug darauf vorbereitet? Ich denke schon. Haben sie Angst vor der Arbeit? Eventuell schon. Zumindest weiß ich, dass ich das angespannte Gefühl gleich im Klassenraum wie ein Schwamm aufsaugen werde. 8:10 Uhr – Aus dem Auto heraus rufe ich die Kollegin meines Vertrauens an. „Kannst du bitte den Raum vorbereiten und die Arbeiten austeilen? Ich werde zu spät kommen.“ Die Vorzeigelehrerin sucht eine Bilderbuchkollegin, damit niemandem auffällt, dass sie nicht on point sein wird – weder physisch noch psychisch. 8:20 Uhr – Eigentlich müsste ich noch auf die Toilette. Das mache ich immer sicherheitshalber, doch in mir wird es laut: „Du musst jetzt schnurstracks in deine Klasse!“ Ich begebe mich also auf direktem Weg in die Klasse und bedanke mich dafür, dass meine Kollegin zehn Minuten ihrer wertvollen Lebenszeit für meine verpasste aufbringen konnte. 8:25 Uhr – Ich versuche verschiedene Gesichter zu erblicken. Manche heben ihren Kopf kein einziges Mal und stecken so tief in ihrem Papier, als wollten sie es gleich kosten. Andere wiederum schauen mich an – hoch konzentriert, in Gedanken… Manche ratlos. Eine Schülerin grinst mich an. Ob sie wohl sieht, wie es mir geht? Einige meiner Schüler:innen wissen, dass ich die Atmosphäre während einer Prüfung nicht ausstehen kann. Es fühlt sich für mich oft so an, als säße ich selbst an ihrer Stelle und müsse mich prüfen lassen. Ich hasste Prüfsituationen in der Schule als Schülerin und noch immer als Lehrerin. Auch dann, wenn ich selbst nicht mehr geprüft wurde. 8:30 Uhr – Ich muss hier raus. Die Fenster lassen sich aufgrund der fragwürdigen Technik nicht öffnen. Die Luft fühlt sich stickig an. Ich glaub‘, ich muss auf’s Klo. Es wundert mich nicht, dass mein Körper mich mit allen Mittel versucht, aus solchen Situationen zu preschen. Ich kenne mich. Ich kenne mich so gut, dass ich weiß, dass ich diese Flucht zum Ein- und Ausatmen wahrnehmen werde. 8:40 Uhr – Ich öffne die Tür und erblicke eine weitere Kollegin, die, ohne es zu wissen, mein Inneres gleich beruhigen wird. „Könntest du kurz ein Auge auf die Klasse werfen?“ Ich weiß, dass niemand meine Besorgnis von außen erkennen kann und gleichzeitig frage ich mich, wie komplex wir Menschen doch sind. Rein objektiv sitze ich wie eine Statue vor meinem Laptop und könnte die nächste Rede für ein großes Publikum vorbereiten.

© Cristina Baglio 2025-04-07

Genres
Romane & Erzählungen