Ich war spät dran an diesem Mittwochmorgen, als ich wie immer, wenn ich aus dem Haus ging, im Postkasten nachsah, ob etwas Wichtiges drinnen war. Ich wohnte in einem alten Wiener Zinshaus, wo die Briefkästen beim Eingang nach Türnummern geordnet hingen. Dieses Ritual hatte ich mir angewöhnt, als ich mit 20 hier einzog. Doch an diesem Tag war alles hektisch. Schnell nahm ich einen Brief, der mir wichtig schien, und ließ alles andere drinnen. Beim Schließen des kleinen Metalltürchens verhakte sich in der Eile der Knopf meines Mantels, sodass er abriss. Aber damit nicht genug, er kullerte auf dem Fliesenboden des Stiegenhauses geradewegs in den alten Abfluss. Weg war er. Ich konnte meinen Ärger nicht verbergen und fluchte vor mich hin. Dabei bemerkte ich nicht, dass mich meine Nachbarin Frau Ofner beobachtete. Ich brauchte ihr nichts zu erklären. Die ältere Dame kam auf mich zu, sah sich meinen Mantel an und sagte: „Wenn Sie am Abend wieder kommen, läuten Sie bei mir.“ Nachdem ich zu spät zur Arbeit gekommen war, deshalb länger bleiben musste und daher eine Vorlesung versäumte, stand ich um Punkt 17:30 vor Frau Ofners Tür und drückte auf den roten Knopf, unter dem „Glocke“ stand. Kurz darauf öffnete die alte Frau. „Kommen Sie“, sagte sie und führte mich in ihre Küche. Dort zog sie eine Schublade auf, die randvoll mit alten Knöpfen war – große, kleine, bunte, schlichte. „Wer weiß, wofür man sie noch brauchen kann“, meinte sie lächelnd und kramte darin, bis sie einen nahm und ihn mir an den Mantel zu den anderen Knöpfen hielt. Es war genau der Gleiche, als wäre er direkt vom Abfluss in Frau Ofners Schublade gerollt. Sie gab ihn mir. „Wenn Sie keinen passenden Faden haben, können wir gerne schauen…“, sagte Sie, während Sie schon auf den Weg zu einer weiteren Schublade war. „Den sollte ich haben“, meinte ich verdutzt und verabschiedete mich. Seitdem besuchte ich Frau Ofner regelmäßig. Sie hatte für fast alles eine Schublade oder eine Kiste voll mit Stoffresten, Schnüren, Schrauben, alten Gläsern oder anderem Krimskrams. Wenn sie einen Pullover aus irgendeinem Grund nicht mehr tragen konnte, trennte sie ihn auf und strickte sich mit der Wolle etwas Neues. Nichts wurde weggeschmissen, weil irgendwann jemand genau das brauchen könnte, betonte sie immer wieder. Anfangs dachte ich, die Sammelleidenschaft der alten Dame sei ihrer Einsamkeit geschuldet und ein Relikt aus der Nachkriegszeit, in der sie aufgewachsen war. Frau Ofner war verwitwet und ihre Kinder kamen sie nur selten besuchen. Arm schien sie auch nicht zu sein. Ihre Wohnung war groß und elegant eingerichtet. Außerdem unternahm sie regelmäßig Reisen. Als ich ihr einmal beiläufig erzählte, dass mein Handy-Ladekabel gerissen sei und ich mir ein neues kaufen müsse, ging sie zielsicher auf eine ihrer Laden zu, nahm einen Lötkolben und noch etwas anderes, von dem ich keine Ahnung hatte, und forderte mich auf, das gerissene Kabel zu holen. Ich staunte nicht schlecht, als Frau Ofner wie MacGyver auf ihrem Küchentisch zu löten und basteln begann, bis sie mir ein intaktes Ladekabel überreichte. Vielleicht war Frau Ofner doch keine einsame Sammlerin, die sich eine Aufgabe suchte, dachte ich mir, als ich wieder in meiner Wohnung war und das Handy auflud. Heute weiß ich, dass sie eine moderne Frau war, die Upcycling gekannt hatte, als es noch gar nicht erfunden war und DIY betrieb, als es noch Handarbeiten hieß.
© Anna-Katharina Plach 2025-02-07