Frau Schneider aus dem Waldweg 3A

Naomi Russo

von Naomi Russo

Story

Frau Schneider lebt seit nun fast vierzig Jahren in diesem Reihenhaus im Waldweg 15a, mit dem kleinen Balkon raus zur Straße und der beigen Fassade, die alle 10 Jahre neu gestrichen wird. Immer im April, das hat sich Frau Schneider im Kalender markiert. „Ordnung ist wichtig, das ungewisse Leben kann ruhig etwas Ordnung vertragen“, sagt Frau Schneider immer zu Frank. Frank ist ihr Sohn, der Jüngste von den Dreien und der Einzige, der noch ab und zu zum Kaffee vorbeikommt. Das freut sie, weil sie dann backen kann. Zwetschgenkuchen, mit Streuseln und ganz viel Zimt, so wie der Frank es am liebsten hat. Manchmal nimmt er ein paar Stücke mit zu seiner Freundin Tanja. Aber seit die Tanja kein Mehl mehr essen kann, bleibt der Kuchen zurück auf dem Küchentisch. Und mit ihm eine traurige Frau Schneider. Sie ist so viel allein in letzter Zeit. Vor allem seit der Walter gestorben ist. Der Walter war ihr Mann, ein feiner Kerl. Der hat ihr auch noch den Kopf verdreht, als das mit dem Vergessen angefangen hat. Frank hat ihr erklärt, dass das normal sei und dass die Tabletten helfen, aber sie wollte doch bloß den alten Walter wieder zurück. Den Walter, der ihr immer donnerstagabends Lilien mitgebracht hat. Jeden Donnerstag, seit dem 18. Juni 1959. Aber irgendwann hat er das mit den Lilien vergessen und das mit den zwei Zuckerwürfeln im Kaffee und ach, überhaupt alles hat er vergessen. Und dann hat sein Herz wohl irgendwann vergessen zu schlagen. Das hat der Frank jedenfalls gesagt. Frau Schneider versteht nicht, wie man immer so viel vergessen kann, dafür hängt doch der Kalender in der Küche.

Frank hat ihr vor zwei Jahren eine Katze geschenkt. Iris heißt sie und sieht ganz niedlich aus mit ihren kleinen, braunen Augen. Wenn sie auf dem dunkelgrünen Lesesessel sitzt, kommt Iris zu ihr und hüpft auf ihren Schoss. „Die Iris ist schon fast so alt wie du, Mama“, hat der Frank mal gesagt, aber das hat sie nicht so recht geglaubt. „So alt werden Katzen doch gar nicht“, hat sie ihm geantwortet und der Frank hat nur laut gelacht. Frau Schneider ist viel zu Hause. Immer mittwochs und samstags geht sie mit dem Herrn Maier von oben auf den Markt am Steintor. Danach setzt sie sich wieder mit Iris auf den dunkelgrünen Lesesessel und guckt Fernsehen oder liest aus der Zeitung. Dann fühlt sie sich einsam. Als der Walter noch da war, hat sie sich nie einsam gefühlt, obwohl der öfter mal weg war. Komisch ist das mit dem allein und dem einsam sein.

Frau Schneider ist erstaunt als es klingelt. Wer will denn noch so spät am Abend etwas von einer so alten Frau? Es ist Herr Maier von oben mit Lilien in der Hand.

„Guten Tag liebe Frau Schneider, ich überleg‘ jetzt schon länger, Ihnen Blumen zu schenken. Sie sahen gestern so reizend aus auf dem Markt, da dacht‘ ich mir, heut‘ ist doch ein guter Tag. Man wird ja auch nicht jünger, nich‘?“ Frau Schneider ist zu überrascht, um etwas zu sagen und lächelt nur. Als sie die Küche betritt, freut sie sich noch immer.

Ihr Blick fällt auf den Kalender. Es ist Donnerstag.

© Naomi Russo 2021-04-17

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Hoffnungsvoll
Hashtags