Fremde Vertraute

janaselina

von janaselina

Story
Berlin

Lange ist es her, dass wir hier das letzte Mal saßen. Du und ich, auf dem kalten Asphalt, im Hintergrund Cro und die Stimmen der Menschen um uns herum. Damals hast Du gesagt, dass Du es komisch findest, wie Menschen einfach zu Fremden werden. Als hätte man sich nie gekannt. Damals dachte ich, das könnte uns niemals passieren.

Und jetzt sitze ich in meinem Zimmer und schaue hinaus in die Bäume, die langsam grün werden. Es ist Mai, und ein weiteres halbes Jahr ist vergangen. Irgendwann werde ich wohl zurückblicken und das alles als einen Wimpernschlag zwischen meinen Studentenjahren abtun. Aber gerade frage ich mich, wie uns das, was wir nie für möglich gehalten hatten, passieren konnte.

Neulich in der Uni, ich war schon spät dran, alle anderen schon im Raum, habe ich mich auf den letzten freien Platz gesetzt, genau hinter Dich. Du hast Dich kurz umgedreht und ein Hallo gemurmelt, mir dabei nicht in die Augen gesehen. Die ganzen zwei Stunden fragte ich mich dann, ob diese Person vom Beginn unserer Geschichte immer noch in Dir steckte. Ob sich irgendwo in Dir drinnen noch der Typ befand, der sich mit mir damals in Cafés zum Schreiben getroffen hat, der mit mir ins Kino gegangen ist und mit dem ich in der U-Bahn die Kopfhörer geteilt habe. So viele kleine Erinnerungen, doch sie machen alle keinen Sinn. Ich würde lügen, würde ich sagen, dass da nie etwas war, zwischen uns. Vielleicht war es keine Liebe, aber eine normale Freundschaft war es auch nicht. Die Luft zwischen uns war irgendwie anders, irgendwie aufgeladen.

Als Du so vor mir gesessen hast, wollte ich mich am liebsten nach vorne lehnen und die Arme um Dich schlingen, Dich nie wieder loslassen. Ich betrachtete Deine schmalen, langen Finger, wie sie mit der Perlenkette um Deinen Hals spielten, Deine braunen Locken, die unter Deiner Kappe hervorkamen, und Deine glattrasierten Wangen. Irgendwo müssen wir noch sein, dachte ich mir. Irgendwo muss es uns noch geben.

Später draußen hast Du Dir eine Zigarette gerollt, und mich dabei lange angesehen. Wir waren immer noch zwei verschiedene Welten, und vielleicht war das der Grund, weshalb wir wieder zu Fremden geworden waren.

Jetzt sitze ich hier und denke an unser erstes richtiges Treffen, an dem wir zwei Fremde waren, die sich doch seltsam vertraut fühlten. Für einen Augenblick wünsche ich mir, wieder dahin zurückkehren zu können, zurück zu meiner ersten Nacht mir Dir in Berlin, als wir zwar noch Fremde waren, uns aber noch nicht entfremdet hatten. Das Bild von uns zwei vor dem Späti aus unserer ersten Geschichte von damals wird nun wohl immer das bleiben, eine Erinnerung unserer Vergangenheit. Wenn ich heute am Laden vorbeilaufe, kann ich uns zwei immer noch dort sitzen sehen. Dann denke ich mir, vielleicht hätten wir damals einfach nicht aufstehen sollen. Dann wären wir nun keine fremden Vertrauten, sondern immer noch vertraute Fremde.


© janaselina 2023-05-04

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Herausfordernd, Emotional, Hoffnungsvoll, Reflektierend, Traurig
Hashtags