Manchmal laufe ich, völlig beirrt und irritiert, durch die Straßen meiner Heimatstadt. Ich sehe all diese Menschen, all diese Gesichter. Und ich kenne kein einziges davon. Ich kenne keine einzige Geschichte, die hinter diesen wandelnden Wesen steckt. Und keiner kennt mich, keiner kennt meine. Erstaunlich, nicht wahr? Dass wir jeden Tag zigtausend Menschen sehen, aber keinen davon kennen.
Meistens drifte ich dann ab und fange an, mir eigene Geschichten über die mir fremde Masse zusammenzureimen. In meinem Kopf erblühen plötzlich die verrücktesten, emotionalsten, glücklichsten, grausamsten und fantastischsten Stories. Dieses Gefühl, meine Mitmenschen nicht zu kennen, ist erschreckend und beruhigend zugleich.
Vielleicht laufe ich auf dem Weg zum Einkaufen, ohne dass ich es weiß an der Liebe meines Lebens vorbei, doch ich merke es nicht, weil ich wegen meines Kumpel Marco, der mir ein eher mittelmäßig gutes Meme gesendet hat, auf mein Handy starre und befangen grinse. Stattdessen gerate ich tags darauf bei Tinder an eine 5/10 und denke, es sei Liebe, obwohl ich gar nicht wissen kann, wie sich richtig echte Liebe anfühlt, weil ich sie wegen Marco verpasst habe. Ach herrje, das ist doch grotesk.
Vielleicht sitze ich in der U-Bahn Richtung Rudow auch neben einem Triebtäter, Nazi oder Mörder. Vielleicht sitzt mir gegenüber jemand, dessen Vater sich heute Morgen das Leben genommen hat. Vielleicht werde ich von jemandem kontrolliert, der inmitten eines heftigen Scheidungskrieges steckt und dabei ist, das Sorgerecht für die beiden Kinder zu verlieren. Vielleicht laufe ich beim Aussteigen an jemandem vorbei, der sich kinderpornographische Inhalte im Darkweb ansieht. Erschreckend und beruhigend zugleich, dass ich in dieser Wolke der völligen Ungewissheit hänge.
Ich bin ein Fremdkörper in dieser Gesellschaft, genauso wie alle anderen mir fremden Gesichter für mich welche sind. Manchmal wünsche ich mir, es wäre nicht so. Manchmal will ich so viel wie möglich über all diese fremden Gesichter in Erfahrung bringen. Aber manchmal, wenn ich abends die Nachrichten einschalte und mal wieder höre, was irgendwelche Typen für grausame Dinge mit diesem vierzehnjährigen Mädchen im Stadtpark anstellen, möchte ich es doch lieber nicht wissen. Dann möchte ich doch lieber ein Fremdkörper bleiben, auch wenn ich dafür nie erfahre, was wahre Liebe ist.
© Sophia Elena Lakotta 2022-05-31