Die Ereignisse in der Ukraine der letzten Wochen haben wohl bei vielen die Erinnerung an Tschernobyl wieder aufflammen lassen. Bis dahin schien es in Vergessenheit geraten zu sein. Und wenn nicht vergessen, dann wurde es als geschichtliche Umweltkatastrophe weitgehend ad acta gelegt.
„Ah, dieser gute, frische Ostwind!“ Das kann einem waschechten Sozialisten schon mal über die Lippen kommen. So auch bei einem Spaziergang am 26.4.1986. Die Aussage mutet sarkastisch an, verbreitete es sich doch am nächsten Tag wie ein Lauffeuer in allen Medien. Alarmstufe rot. Nuklearkatastrophe in Tschernobyl/Ukraine.
„Bei einer, unter der Leitung von Anatoli Stepanowitsch Djatlow durchgeführten, Simulation eines vollständigen Stromausfalls kam es auf Grund schwerwiegender Verstöße gegen die geltenden Sicherheitsvorschriften sowie der bauartbedingten Eigenschaften des mit Graphit moderierten Kernreaktors vom Typ RBMK-1000 zu einem unkontrollierten Leistungsanstieg, der zur Explosion des Reaktors führte.“ (Wikipedia) Einer der größten Atomunfälle in der Geschichte ereignete sich. Ob die nukleare Apokalypse von Fukushima 2011 bei dieser enzyklopädischen Darstellung in Wikipedia schon berücksichtigt wurde, weiß man nicht. Fakt ist, das Ausmaß der menschlichen Katastrophe war und ist enorm. Rund 600.000 Menschen wurden einer starken Strahlenbelastung ausgesetzt. 125.000 tragen, nach Informationen der WHO, heute noch die Folgen und sind schwer erkrankt. Etwa 70 % des radioaktiven Niederschlages trafen das Nachbarland Weißrussland.
„Internate“ nennt Weißrussland seine Einrichtungen, in denen abertausende Menschen ihr Leben fristen, weggesperrt und versteckt vor der Gesellschaft. Diese Einrichtungen sind Psychiatrie, Waisenhaus und Hospiz in Einem. Dort leben jene Menschen, die auf Grund der Katastrophe gleich nach der Geburt zur Obhut dem Staat übergeben wurden oder jene, die deswegen körperliche und/oder geistige Behinderungen haben. Vergessen, verloren, versteckt und verdammt. Nicht nur die Opfer von Tschernobyl leben in diesen Internaten. Jede/r, der von der Regierung als „anders“ eingestuft wird, kann weggesperrt und aus der Gesellschaft genommen werden. Das liegt wohl im persönlichen Empfinden des Entscheidungsträgers.
Jadwiga Bronte, Fotografin, war vor Ort und hat sich an ein schwieriges, von Tabus behaftetes Thema mit ihrem Projekt Menschen mit Behinderungen zu visualisieren, herangewagt. Sie meint: “….., die Menschen in Europa sollen sich darüber im Klaren sein, dass es anhaltende Probleme mit Menschenrechtsverletzungen, schlechter medizinischer Versorgung und Hunger gibt, die sehr oft mit Armut und mangelnder Bildung einhergehen. Die Leute denken oft, dass diese Probleme mehr in Ländern der Dritten Welt vorkommen und nicht an der Schwelle zur EU.“
Frischer Ostwind – vergessenes Tschernobyl.
Weiterführend: Netflix Miniserie „Chernobyl“
© Gabriela Obermeir 2022-04-18