Frühsommerabend

LillyRuth

von LillyRuth

Story

Ganz warm sind sie noch, die Terrassensteine. Aufgeheizt von den vielen Sonnenstunden des Tages. Sie wärmen meine nackten Fußsohlen noch immer, obwohl die Sonne schon lange untergegangen ist. Ein lauer Frühsommerabend. Einer der ersten in diesem Jahr. Ich will ihn genießen mit jeder Faser meines Körpers. Der Kopf sagt: “Es ist spät. Bring die Kinder ins Bett. Geh schlafen.”

Das Herz will hier draußen bleiben. Will verweilen in diesem gefühlten Kurzurlaub. Noch vor zehn Minuten sangen die letzten Vögel ihren abendlichen Schlafgesang. Nun sind sie verstummt. Stattdessen stimmt eine andere Band bereits die Instrumente für ihren großen Auftritt. Hunderte Grillen in den umliegenden Wiesen beginnen zu zirpen.

Wie oft hatte sich dieses Schauspiel in den vergangenen Jahren wiederholt und ich hatte es nicht einmal beachtet? Hatte mein Tagwerk wie ein Hamster in seinem Rad verrichtet. Bei Einbruch der Dunkelheit die Jalousien heruntergelassen und die Kinder ins Bett gebracht. Müde vom Tag war ich ebenso alsbald eingeschlafen. Tag für Tag. Woche für Woche. Monat für Monat. Jahr für Jahr. Nun bereue ich es fast, nicht intensiver gelebt zu haben.

Etwas schaffen. Etwas aufbauen. Etwas leisten. So wird es uns von klein auf eingetrichtert. An Tagen wie diesem stelle ich mir die Frage: Für wen, bitte? Wofür, bitte? Um irgendwann gehetzt vom Alltag in irgendeinem Urlaubsort anzukommen? Für das neue Auto? Einen Anbau? Für die Nachkommen? Um den Kindern etwas hinterlassen zu können?

In der Mitte meines Lebens stelle ich ernüchtert fest, dass Geld nicht mehr als ein Tauschmittel ist. Sind erst einmal die Grundbedürfnisse befriedigt, macht ein Mehr an materiellen Gütern nicht glücklicher.

Was hingegen zählt, ist der Moment, der sich in dieser Form niemals wiederholen wird. Das Hier und Jetzt. Zeit ist kein unendlich verfügbares Gut. Das musste ich mehrfach schmerzhaft erleben. Zu viele Menschen habe ich sterben sehen. Lange vor „ihrer Zeit“. Der Tod war und ist mein Lebensbegleiter, aber auch mein weisester Lehrer und schärfster Mahner. Die Lieben im Jenseits rütteln mich immer wieder wach, wenn ich mich zu sehr im Alltag verstricke, verzettle und abstrample. Sie mahnen mich, aufmerksam für das Schöne, das Gute, das Besondere zu bleiben.

Achtsamkeit heißt die modern gewordene Umschreibung dafür. Wie Muskeln wachsen, wenn man sie täglich trainiert, wächst auch diese Fähigkeit, je intensiver und öfter sie ausgeübt wird. Und so stehe ich da – an diesem lauen Abend. Mit nackten Beinen auf der noch warmen Terrasse. Ein Glas Wein in der Hand. Das Frühsommerlüftchen streichelt meine Wangen. Ich höre den Grillen zu und habe Louis Armstrong im Ohr, der unvergleichlich schön “What A Wonderful World” singt.

Albert Einstein sagte einst: “Es gibt zwei Arten zu leben. Entweder so, als wäre nichts ein Wunder, oder so, als wäre alles eines.”

© LillyRuth 2021-06-05