Ländliche Fülle

Story

In den letzten Jahren verbringe ich die Sommermonate immer lieber und länger in dem Haus meiner verstorbenen Eltern am Millstätter See in Kärnten. Sommer wie damals. Nur kürzer. Einstein. Relativitätstheorie. Früher dauerte der Sommer endlos lang, einmal – so „deuchte“ mir – sogar 100 Jahre. Er zog sich fürchterlich.

Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, könnte es der Sommer gewesen sein, in dem ich mich verlobte. Da war ich sieben. Er 1 Jahr jünger. In der Schule saßen wir nebeneinander, in zwei Reihen allerdings. Im Sommer war ich auf Zufallstreffen mit meinem Verlobten angewiesen.

Jetzt sind die Sommer kurz und regenreich. Das macht mich ein bißchen melancholisch. Heuer war ich schon Anfang Juni hier, jetzt ist es September! Und mir kommt vor, wir haben das Dach vom Pavillon soeben erst aufgezogen. Die Nachbarin sagte: Wos hoppes denn do fir en Paldahin? 5x vielleicht sind wir mit dem Kanu gefahren, 3x haben wir gegrillt, 3x Schwammerl, nicht viel öfter Aperol Schpritz. Und aus!

Derzeit sind wir gerade damit beschäftigt, die Früchte, die sich dadurch ergeben, dass wir nicht mehr ständig an unseren Sträuchern herumschnipseln, zu ernten. Und dann? 10.000e von Kriacherln (steir.), Mauchelen (kärntn.), Ringlotten bzw. Mirabellen (hochdt.) schauen uns vertrauensvoll an und sagen leise: Bitte nicht auf den Komposthaufen!

Also seufze ich: Ok, ich probier`s, Marmelade. Aber i mach ka Tamtam. Abwiegen & solche Scherze. Alles z’samm, umg’rührt. Und passt! Die Gelierprobe gelingt. Ich bin baff. Die Mauchelen sind wirklich kooperativ. Oder total verschreckt. Sie wissen, sie dürfen sich keinen Fehler leisten. Und weil es so gut gelungen ist, heute noch einmal. Nur haben wir keine Gläser mehr. Meine flüchtige Paddelbekanntschaft gibt aber nicht so schnell auf. Wos is, wenn ma die Mülchfloschn auswoschn? Oder die laar’n Weinfloschn? Ich bin für Experimente jederzeit offen.

Aber es ist tatsächlich ein Problem mit der ländlichen Fülle: Wenn man in Pension ist und endlich viel Zeit hat, hat man keine Ausreden mehr. Das schlechte Gewissen, das katholische, regt sich. Gaben Gottes, Geschenke der Schöpfung.

Ich denke an afrikanische Freundinnen, die Blätter von Bäumen holen müssen für ihre mageren Ziegen. Und wir „baden“ hier in Köstlichkeiten. Fast jeden Tag steht ein Kübel mit Obst oder Schwammerl vor unserer Haustüre. Von Nachbarn, denen es genauso geht wie mir. Sie wissen nicht, wohin mit der Fülle.

Gestern fragte ein Paar nach einem Quartier. Ich hatte – coronabedingt – keines, aber Mauchelen. Sie strahlten, nahmen den ganzen Kübel. Es waren Russen, zwar schon seit dem Mauerfall in Berlin, aber immer noch „ländlich“ im Herzen. Generationen von Russen haben nur überlebt, weil ihre Babuschkas Datschas hatten, wo sie Obst und Gemüse anbauen, Pilze und Gurken einlegen, „Samogonka“, Selbstgebrannten für Opa, Papa und Söhne schwarzbrennen konnten. Auch das verbindet mich mit Russland. Unser Haus in Döbriach ist meine Datscha.

© 2020-09-09

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