von walter reichel
„Willkommen, willkommen, meine Damen und Herren, im Theater unserer Stadt, das sich weit in schmale Gassen drängt und gegen die Ansprüche der rationalen Ordnung sein Recht verteidigt, unbesonnene Leidenschaften zu entfachen, die Obrigkeit zu reizen und die erhitzten Besucher und Besucherinnen einer erschütternden Katharsis zu unterziehen. Schon im Foyer spiegelt sich in den Kristallen der flammenden Prachtluster die sturzbachgleiche Flut freudig bewegter, schön gekleideter Menschen, die erwartungsvoll ihre Plätze einnehmen und auf die Öffnung des Vorhangs warten.
Denn dort auf der Bühne entsteht sie ja, die spielerische, leichtgeschürzte Flächenwelt aus Scherenschnitten, die zum Leben erwachen und mit geborgten Körpern und Stimmen, ja selbst mit geborgten Seelen für kurze Zeit in Liebe und Hass entbrennen. Die düsteren Flammen der Leidenschaft versengen die unschuldigen Schwungfedern der Schutzengel und verscheuchen die feigen Vorbehalte der Vernunft. Wolken aus Pappmaschee türmen sich auf, Orkane jagen vorüber, Theaterblitze wetterleuchten, Donner grollen aus geschwungenen Blechen und dann folgt – nach einer starken, erhebenden Sentenz, am Wendepunkt gesprochen, während die Nerven zucken und das Herz durch rasende Pulsfrequenz das Blut darauf vorbereitet, im letzten Akt vergossen zu werden, —ein Augenblick unerträglicher Stille, denn das Publikum hält den Atem an und das Gewicht des Lebens wird in einem einzigen zusammengedrängten Augenblick fühlbar.
Und hier das Büro des Direktors … dürfen wir einen Blick … oh, Verzeihung, … hier, kommen Sie, treten Sie ein, die hauseigene Schneiderei und in der Garderobenkammer hängen Prunktücher, brokatene Roben, schwarze Wämser, samtene Radmäntel, Husarentschakos und vieles mehr. Von der golddurchwirkten Schleppe des Sonnenkönigs mit weißem Lilienemblem bis zur härenen Mönchskutte, vom rüschenbesetzten Mieder der Pompadour bis zu den Lumpen der Bettlerinnen sind alle Verkleidungen vorrätig, derer wir bedürfen, um unsere Nacktheiten zu verbergen oder zu verdeutlichen.
Und dort, unter dem Dach, durchdrungen von den warmen, uringesättigten Ausdünstungen der Klosettanlagen, die hier angesaugt und durch die Entlüftung abgeführt werden, durchzogen auch vom Geruch nach Leinöl und Terpentin, die Kulissenwerkstatt mit allen griffbereiten Orten der Welt, seien es Burgen mit wappengeschmückten Rittersälen, biedermeierliche Bürgerstuben mit veronesergrüngestreiften Tapeten, Glashäuser mit wachsbleichen Orchideen, Schützengräben und Gebirgspanoramen, Wüsten und Wildnisse, Amtsstuben, Fabrikhallen, Gefängnisse und Schlachthöfe – – – Sie sehen, wir geben uns alle erdenkliche Mühe, aber was können wir ausrichten? Gegen die WIRKLICHKEIT? Gegen dieses Theater, von dem wir glauben, es sei die Wirklichkeit? Nichts.“
© walter reichel 2022-08-13