Fünf sinnvolle Minuten

MISERANDVS

von MISERANDVS

Story

Fünf Minuten sind es noch bis Mitternacht. Dann endet mein Tag der Erinnerung. Noch fünf Minuten, dann legen sich wieder die dicken, staubigen Bahnen meines Verstands über eine sanfte Stimme, über ein lautes Lachen, über ein zerrissenes Band der Liebe und einen Berg der schönsten Lügen aller Zeiten. Ich höre schon den schlurfenden Schritt des rachitischen Kerkermeisters meines Herzens, wie er kommt, meine eingerostete, quietschende Herzpforte wieder zuzuschlagen und mit schweren Ketten zu verhängen.

Noch fünf Minuten gönne ich mir ein Gefühl von gestern, das heute eigentlich keinen Wert mehr hat. Wie nutzt man sinnvoll fünf Minuten?

„Alexa, spiele meine Playlist ´Franzi`“, sage ich. Und die Quatscheule von Amazon bestätigt. Playlist ist gut, denn darin ist nur ein einziges Lied.

Und ich schaue auf das Display von Alexa. Vier Minuten und sechsundfünfzig Sekunden dauert das Lied. Wunderbar. So also nutze ich meine fünf Minuten. Ich lehne mich zurück, schließe die Augen, und ich höre ein Lied, das mir geschenkt wurde. Ein Lied, das ich bis dahin noch nicht gekannt hatte. Ein Lied, das ich so sehr geliebt habe, das ich wieder und wieder gehört habe, und das ich heut zum ersten Mal wieder seit langer Zeit höre.

Ich stellte mir damals vor, dass wir – so weit entfernt von einander – dieses Lied zur selben Zeit hören würden, und ich glaubte, dass sie dabei an mich dachte, wie ich an sie dachte. Damals dachte ich wirklich, es wäre MEIN Lied. Ich glaubte, es würde nur mir ganz allein gehören, weil es mir doch von Franzi geschenkt wurde. Dass Franzi das Lied auch mit … nennen wir ihn “Gunnar” … oft und gerne hörte, woher sollte ich das wissen? Damals glaubte ich alles. Ihr jedenfalls. Vorbehaltlos. Aber damals glaubte ich auch, dass die vielen schönen Worte, die zahllosen Küsschen und das kleine, freche, wilde Herz, das mir mein Lied geschenkt hatte, nur mir gehören würden. Woher sollte ich wissen, dass an Franzis süßen Lippen noch Gunnars warmer Schnodder klebte?

Was für einen Scheiß man nicht manchmal glaubt!

Ich lehne mich zurück. Und jemand singt in einem furchtbaren englischen Akzent davon, wie er unter tausenden Sternen geküsst werden möchte, und wie sich Menschen unter mysteriösen Umständen verlieben, und wie ein Lächeln für immer in seinem Verstand und seiner Erinnerung sein wird, und wie er sie lieben wird, bis er 70 ist.

„Soll ich den Song wiederholen?“, möchte Alexa wissen. Ich öffne meine Augen, seufze. „Nein.“ Dafür reicht die Zeit nicht mehr.

© MISERANDVS 2021-03-02

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