Eines meiner Lieblingsfächer in der berufsbildenden Schule war “Stenographie” – oder auch die “Kurzschrift” genannt. Es war eine Geheimschrift mit Kürzeln und zu lernenden Vokabeln, dazu gab es vertiefend auch die Eilschrift. In Gerichtssälen wurde Steno für die Mitschrift bei Verhandlungen verwendet und alle Sekretärinnen sollten diese Schrift beherrschen. Ob manche Mädchen am Schultyp scheiterten, weil sie dieses Fach nicht mochten, weiß ich nicht, aber für manche Schülerinnen war dieser Unterrichtsgegenstand eine Qual. Ich liebte Geheimsprachen zum Reden und beherrschte die L- und die B-Sprache, deshalb machte mir diese schriftliche Geheimsprache auch Spaß! In der Hauptschule bereits hatte der Stenographieunterricht begonnen und eines Tages wurde der Beginn eines Zitats von Goethe gemeinsam gelesen. “D’rum prüfe, was sich ewig bindet….” stand hier und der Lehrer fragte, ob jemand die Fortsetzung dieses weisen Spruches wisse. Ich zeigte sofort auf, stolz, mein Wissen anzubringen und sagte aus voller Inbrunst:“Drum prüfe, was sich ewig bindet, ob sich nicht noch was Bess’res findet!“ Mit hochgezogenen Augenbrauen fragte der Lehrer, von wem ich dass wüsste. “Von meinem Vater!”, sagte ich stolz, wurde dann aber eines Besseren belehrt. Wenn ich jetzt mein Tagebuch lese, kann ich einiges leider nicht mehr entschlüsseln und auch beruflich habe ich die Schrift seltenst genutzt. War es sinnlos? Wozu der ganze Stress, wenn die Schrift heute kaum jemand mehr nutzt? Da ich gemerkt habe, dass ein Satz in einer Fremdsprache oft ein Türöffner ist für eine freundliche Begegnung, probiere ich diese “Fremdsprache” mit einer Botschaft bei einer Frau aus, die im gleichen Alter wie mein Vater ist. Bedächtig schreibe ich am Küchentisch meinen Lebenstipp auf ein Kalenderblatt und hoffe, noch alle Zeichen zu wissen. Mit einem zugedrückten Auge liest die Frau aus den 1930er Jahren langsam die fünf Worte und sie entschlüsselt die geheimnisvollen Zeichen. “Ich wünsche Dir mehr Vertrauen!”, liest sie konzentriert vor. Dann schmunzelt sie, hält inne. Für einen Moment haben wir eine besondere Begegnung. Freude und der Triumph des Verstehens schafft eine Brücke. Schade, dass ich die Schrift nie bei meinen Großeltern ausprobieren konnte. Wenn Deine Großeltern oder Urgrosseltern oder Ururgrosseltern zwischen 1915 und 1970 geboren sind, könntest Du es ja mal probieren, aber nur, wenn Du sie magst. Im Bild ist ein Text. Der obere Satz gilt der Oma, der untere dem Opa. Ein Versuch ist es wert! Denn manches, was nicht gehört werden kann, lässt sich lesen. Und vielleicht findet sich “Herz zu Herzen”,wie schon Goethe es richtig formulierte.
© Strassenschillerin 2022-08-05