von Johnny_Flash
Ich fluchte innerlich, denn ich wusste, dass ich den ganzen verdammten Weg zu Fuß in die Arbeit gehen musste, da mein Social Credit Score (SoCs) auf einen neuen Allzeit -Tiefstand gesunken war. Nach ein paar kleineren Verfehlungen hatte ich letztens offenbar auch noch meinen Müll nicht richtig getrennt und jetzt durfte ich keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr benutzen.
Ich sah eine alte Frau in einem hellpurpurfarbenen Mantel und einer Handtasche an der Ampel stehen. Trotz ihres Alters stand sie mit gerader Haltung, ihr graues Haar ordentlich zu einem Dutt zurückgebunden, ihr Kinn hoch erhoben, was ihr eine trotzige Ausstrahlung verlieh. Sie trug eine Brille hinter der ihre lebhaften Augen alles um sie herum aufzunehmen schienen, als würde sie sich nach einem Ziel umschauen.
Ich fragte mich, ob ich ihr dabei helfen könnte, die Straße zu überqueren. Ich wusste, dass auf der anderen Seite der Kreuzung Kameras mit Gesichtserkennung installiert waren, die natürlich mit dem sozialen Kreditsystem gekoppelt waren. Jeden Tag eine gute Tat, sagte ich mir und ging auf sie zu und fragte sie, ob ich sie über die Straße bringen dürfe.
Sie sah mich an und nickte zustimmend. Das war gut. Ich bot ihr meinen Arm an. Ihr Griff war überraschend fest. Während wir langsam und mit kleinen klackernden Schritten die Kreuzung überquerten, lehnte sie sich etwas an mich. Ihr Körper fühlte sich leicht an, aber stark und ihre Bewegungen waren trotz ihres Alters geschmeidig.
Wir erreichten die andere Straßenseite. Ich öffnete die Social Credit App und atmete auf. Gerade, als ich mich verabschieden wollte, um mich auf den Weg zur U6 zu machen, zog sie mich in einen uneinsichtigen Hauseingang, drehte sich zu mir um, ohne dabei meinen Arm loszulassen und sah mich erwartungsvoll an. Dann sagte sie: „Danke, dass Sie mich über die Straße gebracht haben. Das wären dann 25 Euro bitte.“
Ich war baff. Ich zögerte einen Augenblick, aber ich wollte unbedingt meinen Score verbessern, wer weiß, was sie tat, wenn ich nicht bezahlte, ich konnte mir keine weiteren Verfehlungen leisten. Also gab ich ihr das Geld. Sie nahm es und steckte es in ihre Handtasche. Dann zwinkerte sie mir zu und sagte: „Ich warte immer an dieser Ampel, wenn Sie mal wieder Hilfe brauchen.“
Ich fluchte innerlich und machte mich auf den Weg in die Arbeit: Ich war wirklich schon spät dran.
© Johnny_Flash 2023-01-27