ganz klein und unsichtbar

Sabine Höller

von Sabine Höller

Story

„…und dann waren die Grenzen offen. Und sie sind es bis heute.“

Im Fernseher hüpfen viele Menschen in 80er Jahre Kleidung auf einer mit Graffiti besprühten Mauer herum. Als ich sehe, wie dicht sie zusammenstehen, zucke ich kurz zusammen. Ich bleibe mit den Augen am Fernseher hängen, als sie sich in den Armen liegen und gemeinsam Biert trinken. Sich ganz nahe kommen. Weniger als einen Meter.

„Mama?“

„Ja?“

„Die sagen da, die Grenzen sind bis heute offen. .“

Ich muss schlucken.

„Aber vorher hab ich gesehen, dass man aus Italien gar nicht über unsere Grenze kommen darf.“

Meine Tochter legt ihre Marmeladesemmel auf den Teller zurück. Sie dreht sich um. Ihre Fingerspitzen glänzen. Sie stützt sich an der Couch ab, hebt ihr Buch vom Teppichboden auf, streichelt die Katze und hängt sich dann an das Tischbein. Marillenmarmelade glänzt mir von überall entgegen. Schließlich kommt sie an meinem Jogginghosenzipfel an. Ich überlege, wo der Textilreiniger ist.

„Man darf gerade nicht über die Grenzen, das ist richtig.“

Mini-Me sieht mich mit riesigen Augen an.

„Heißt das, wir dürfen auch nicht auf Urlaub fahren?“

Mein Kind kratzt sich. Ein kleines Marillenstückerl bleibt an der Wange kleben. Tränen bilden sich in ihren Augen. Vielleicht denkt sie an Alessia, ihre Freundin in Apulien. Die sie heuer eher nicht sehen wird.

„Aber es ist doch kein Krieg??“

Ich zücke ein Feuchttuch und wische das Marillenstückerl weg. Gleichzeitig fange ich damit die Tränen auf.

„Nein. Weißt du, wir helfen alle zusammen. Unser Feind ist so klein, dass man ihn gar nicht sehen kann. Deswegen müssen wir ganz besonders aufpassen und zuhause bleiben. Aber wir haben uns alle lieb. Im Krieg sind Menschen die Feinde. Die sind zusammengerechnet viel viel größer.“

Kleine zusammengezogene Augenbrauen sehen mich an. „Ganz klein? Und den sehen wir gar nicht?“

Ich nicke.

Kleine Beinchen hüpfen von dannen.

Mein Blick fällt auf eine Dame am Fernsehbildschirm, die 1989 wohl in meinem Alter war, mit geföhnter, blond gefärbter Kurzhaarfrisur und Bomberjacke. Auf ihrem selbstgeschriebenen Schild steht. „Freiheit! Jetzt! Für immer!“ Sie zwinkert mir zu.

„Es ist nur ganz klein und unsichtbar.“, sage ich zu ihr.

Dann gehe ich den Textilreiniger holen.

© Sabine Höller 2020-04-02

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