Ganz schön daneben.

Franz Brunner

von Franz Brunner

Story

Natürlich ging der erste Wurf daneben, der zweite verfehlte sein Ziel noch bravouröser. Obwohl ich bedacht war, bereits bei der Auswahl der Steine aus Größe und Form auf deren Flugeigenschaften zu schließen, stellten sich die ersten Wurfobjekte als unbrauchbar heraus. An mir konnte es nicht liegen, ich bin von Geburt an ein begnadeter Schütze (!), quasi ein Naturtalent. Gäbe es Statistiken über meinen aktuellen Zeitvertreib, so würden die mir sicher mitteilen, dass es höchst unwahrscheinlich ist, eine Fahnenstange mit einem Durchmesser von 5 cm mehrmals hintereinander zu treffen, wenn man am Strand sitzt und diese aus 10 m Entfernung mit Steinen bewirft. Wenn man dazu berücksichtigt, dass man nach selbstherrlicher Einschätzung der Spezies „Krone der Schöpfung“ angehört, würde die Trefferquote beschämend sein. Der dritte Wurf brachte fast erwartungsgemäß die dritte Enttäuschung.

Nach 10 weiteren Fehlversuchen legte ich mit ersten Anzeichen von Frustration eine Pause ein und griff mir an die rechte Schulter. Da war was, was nicht sein sollte, irgendwas schien da nicht ganz rund zu laufen. In grauer Vorzeit meines Daseins konnte ich einen Schlagball problemlos über die 60m-Marke schleudern, jetzt schmerzte mich die Schulter und ich hatte lediglich mit einer 60er-Marke an Jahren aufwarten. Ich zog es vor, den sportlichen Teil des Nachmittags ohne anrechenbaren Treffer zu beenden und mich bis zum Abendessen der Philosophie zu widmen. Ja, das darf man in Griechenland. Man darf das im Grunde überall, nämlich Philosophieren, ohne gleich des Hochstapelns verdächtigt zu werden, aber hier bei den Hellenen ist die Versuchung besonders groß.

Die Schulter beruhigte sich gemeinsam mit mir, ich blieb weiter zeitlos am Kiesstrand hocken. Füße und Waden von sanften Wellen umspült, griff ich nach kleineren Steinen, allerdings nicht, um diese wieder gegen den Fahnenmast zu schleudern, sondern um mit ihnen Kontakt aufzunehmen. „Na, Kleiner, was hast du denn zu erzählen?“, fragte ich. Nicht laut natürlich, es waren ja auch normale Menschen um mich, die ich nicht erschrecken wollte.

Steinchen um Steinchen befragte ich, Steinchen um Steinchen blieb stumm. Die Antwort kam von unerwarteter Seite, das kitschig-blaue Meer erbarmte sich. Plötzlich konnte ich die Sprache der Wellen verstehen, aus dem chaotischen Rauschen wurde zuerst ein unverständliches Flüstern, nach und nach wuchsen daraus verständliche Worte und schließlich formte die laue Brise ganze Sätze. Einen anscheinend sehr wichtigen bekam ich wiederholt zu hören: „Verweile doch, du bist so schön!“

Ich bin belesen genug um zu wissen, dass nicht ich gemeint war, sondern der traumhafte Moment. Am Strand sitzen, in Ehrfurcht den Atem des Universums spüren dürfen. Und irgendwann auch den Durst. Beschwingt, wie es jenseits der 60 noch möglich ist, sprang ich auf, um in der rettenden Taverne meine Liebste zu küssen und dem Universum bei einem Glas Retsina zu danken.

© Franz Brunner 2022-05-13

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