Gast im Dorf meiner Kindheit

Dagmar Lücke-Neumann

von Dagmar Lücke-Neumann

Story

Die ersten Jahre meiner Kindheit und Jugend verbrachte ich im großväterlichen Haus an der Hauptstraße eines niedersächsischen Dorfes. Ein imaginärer Spaziergang entlang der Dorfstraße erscheint mir reizvoll. Ich sehe mir den Ort meiner Kindheit auf einer Karte im Internet an. Einiges von dem, wie ich es kannte, ist geblieben.

Kurz hinter dem Ortseingang verweile ich kurz. Dort links in einem der kleinen Siedlungshäuschen wohnte Doris. Ich erinnere mich an ein zurückhaltendes Mädchen mit roten Haaren und Sommersprossen. Wir waren in der ersten Klasse, als ihre Mutter in unmittelbarer Nähe der Schule von einem Baum erschlagen wurde. Ein heftiger Sturm hatte ihn entwurzelt und die Frau just in dem Moment getroffen, als sie mit dem Fahrrad losfahren wollte. Alle Kinder waren zu diesem Zeitpunkt bereits im Klassenraum. „Hätte Frau K. ihre Tochter nicht zur Schule begleitet wäre sie nicht ums Leben gekommen.“ Der Unfall beschäftigte mich damals sehr.

Ich spaziere weiter und passiere ein Gasthaus mit dem Namen Lippoldskrug. Die Besitzer haben es nach dem Räuber benannt, der laut einer Sage außerhalb des Dorfes sein Unwesen getrieben hatte.

Der Straße weiter folgend lande ich vor den Stufen zu einem Schlachterladen. Bei jedem Einkauf erhielten wir ein halbes Wiener Würstchen, das wir sofort verspeisten. Kurze Zeit später lande ich vor zwei identisch aussehenden Häusern. Das linke hatte mein Großvater für seine zwölfköpfige Familie gebaut. Im Nachbarhaus befand sich lange Zeit eine Backstube mit Ladengeschäft. Ich erinnere mich an den Duft frischer Brote. In Papier gehüllt wurde es mir über den Ladentisch gereicht. Es fiel mir schwer, nicht gleich in den knusprigen Knust zu beißen.

Während meiner Grundschulzeit wartete vor dem Zaun auf der gegenüberliegenden Straßenseite morgens ein kleiner Junge auf mich. Beim Überqueren der Straße musste ich höllisch aufpassen. Es gab damals keinen Zebrastreifen. Unser Schulweg führte bei “Pötchen Peine” vorbei. Zu meinem Erstaunen gibt es den Laden noch. Der Name bezieht sich auf die Schweinshaxen, die im Fleischerladen verkauft werden.

Da sehe ich auch schon das alte Backsteingebäude, in dem ich zur Schule ging. Es hat nur zwei Klassenräume. In einem wurden zu unserer Zeit die Klassen eins bis vier, im anderen die oberen Klassen unterrichtet. Gegenüber liegt die sehr schöne Dorfkirche, in der ich getauft wurde. Dahinter verbirgt sich ein altes Rittergut, das von hohen Mauern umgeben ist. Bis hierher ist alles so, wie es einmal war.

© Dagmar Lücke-Neumann 2022-09-08

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