Gebt dem Hemd seinen Mohren nicht zurĂŒck!

Mary Modl

von Mary Modl

Story

„Kinder der Sechziger und Siebziger, wie glĂŒcklich könnt ihr euch preisen, dass ihr noch unbeschwert von den „Zehn kleinen Negerlein“ singen konntet, ohne dafĂŒr Ă€chtende Blicke geerntet zu haben! Seither haben sich die Zeiten geĂ€ndert, denn wir befinden uns im Zeitalter der „Political Correctness“. Diese könnt ihr euch als verbalen Maulkorb voll mit politisch korrekt auszusprechenden Termini umgebunden vorstellen.“

Sie griff wortlos zur Fernbedienung und drehte den Fernseher ab. Ob NegerkĂŒsse verteilt werden sollten oder der Mohr seine Schuldigkeit wirklich als ein solcher getan haben dĂŒrfte, ließe sie kalt. Meinte sie. Das linguistische Sprachenkodexgeschwafel rund um den Begriff „Neger“, darum, was verbal Ă€ußernd vertretbar sei und was nicht, interessierte sie nicht mehr. Zu oft hatte sie sich all der Abwertungen, denen sie selbst aufgrund ihrer Abstammung ausgesetzt gewesen war, nicht erwehren können.

Die Frau setzte sich wieder in ihren Lehnstuhl zurĂŒck. Immer wieder gelang es ihr nicht, ihren Blick von ihrem Unterarm fernzuhalten, das flĂŒchtige DrĂŒberstreifen als solches zu belassen, die blĂ€ulich vergilbten Ziffern zu ignorieren. Sie schloss die Lider und trat eine gedankliche Reise weit zurĂŒck vor ihrem inneren Auge an.

Je mehr sie sich zeitlich entfernte, desto prĂ€senter war das Geschehen. Beinahe acht Jahrzehnte, die ĂŒberlebt worden waren, blĂ€tterte sie in ihrem Lebensbuch auf. 1943 kam sie mit ihrem Bruder Simon in Gusen II an. Sie war achtzehn, er zwei Jahre Ă€lter. Die Eltern waren schon lange weg, Richtung Polen eher. Seit 39 wussten sie nichts von ihnen.

Die Schuld, derer sie sich bewusst werden sollten, dort in Gusen, wurde ihnen durch den Stern auf ihrer Kleidung und durch ein eingebranntes Nummerndasein aufoktroyiert. Diese Schuld sollten sie dort abarbeiten. Im „Bergkristall“, in dem die Me262 – die Messerschmitt’sche Wunderwaffe der Nazis – hergestellt wurde, sollten sie sich ihrem Schicksal „Vernichtung durch Arbeit“ ergeben.

Alleine der Weg vom Lager bis zum Stollen bedeutete mehrere Kilometer tĂ€glich. UnterernĂ€hrt und ausgemergelt nach einer Zwölfstundenschicht unter Tag war dieser kaum mehr retour zu bewĂ€ltigen. Der Bruder stĂŒrzte nach einem Gewehrkolbenhieb in den Magen im April 45 in den Tod. Sie ĂŒberlebte, obwohl ihr Name bereits auf der Deportationsliste zu den Öfen nach Mauthausen – nur ein paar Kilometer weiter – gestanden war. Es war purer Zufall gewesen. Die Barackennummer war falsch eingetragen worden. Irgendjemand war fĂŒr sie gehalten worden. FĂŒr sie in den Tod gegangen. Sie war fĂŒr tot erklĂ€rt gewesen. Doch sie konnte den Amis ihr Ich beweisen.

Mauthausen kennt heutzutage jeder. Gusen kann seit einigen Jahren besichtigt werden. RundgĂ€nge werden angeboten, zweimal jĂ€hrlich an Gedenktagen. Sie war nie wieder dort gewesen. Es hat ihr stets an Political Correctness im Umgang damit, dass es Menschen gab, die „bis zur Vergasung arbeiten“ mussten, gefehlt.

© Mary Modl 2019-04-11

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