Für mich waren Friedhöfe immer interessant und hatten nichts Unheimliches. Vielleicht liegt es daran, dass meine Familie sich immer intensiv um die Gräber unserer Angehörigen gekümmert hat, der Friedhof fußläufig erreichbar war und wir fast täglich mit dem Hund dort spazieren gegangen sind. Dieser Ort hatte für mich also nichts Mystisches, oder Bedrohliches. Er war alltäglich. Deshalb aber nicht uninteressant, ich war immer sehr gerne dort. Ich habe oft am Grab meines Opas gestanden, ihm erzählt, wie es in der Schule läuft und was ich sonst so gemacht habe. Ich habe immer eine ganz besondere Verbindung zu ihm verspürt, auch, oder vielleicht gerade, weil ich ihn nie gekannt habe. Meine Mutter war mit mir schwanger, als er ganz plötzlich zusammenbrach und ins Koma fiel. Kurz nachdem ich geboren war, verstarb er dann. Ich hatte oft das Gefühl, er hätte gehen müssen, um mir Platz zu machen und in meinen dunkleren Momenten habe ich mir Vorwürfe deswegen gemacht. Ich bin mit vielen tollen Geschichten über meinen Opa aufgewachsen und obwohl wir uns nie begegnet sind, liebe ich ihn sehr. Und nach allem, was ich über ihn gehört habe bin ich mir sicher, er hätte mich ebenfalls geliebt. Und auch, wenn ich nicht wirklich daran glaube, dass er tatsächlich über mich wacht, habe ich mich immer besser gefühlt, wenn ich an seinem Grab mit ihm gesprochen habe.
Diese Unbefangenheit hat mich auch dazu gebracht, mir fremde Gräber genau anzuschauen. Es hat mich schon immer fasziniert, mir zu den Namen und Daten auf den Steinen Geschichten auszudenken. Manchmal waren es nur kurze Gedanken, manchmal nahm ich die Namen mit und dachte über sie nach. Auch der Zustand der Gräber floss dabei in meine Überlegungen ein. War die Frau in dem aufwändig bepflanzten und liebevoll gepflegten Grab ein besserer Mensch, als der Mann in dem Grab daneben, auf dem nur eine Steinplatte lag und keine Kerze brannte? Oder hatte er nur niemanden mehr, der sich um das Grab kümmern konnte? War die Familie, offenbar Vater, Mutter und 2 Söhne, die zusammen in einem Familiengrab lagen und im 19. Jahrhundert alle innerhalb weniger Monate verstorben waren, derselben Krankheit erlegen? Oder starben alle aus unterschiedlichen Gründen? Warum steht auf dem gemeinsamen Grab eines Ehepaares bei ihm „Geliebter Ehemann und Vater“, bei ihr aber nur „Unserer Mutter“? Hatte sie schon immer ein schlechtes Verhältnis zu ihren Kindern, oder hat erst der Verlust des geliebten Mannes zu dieser Entfremdung geführt? So viele Geheimnisse, so viele Geschichten.
Besonders traurig macht mich auf unserem Friedhof immer der Bereich, in dem die Kinder begraben liegen. Auf ihren Gräbern liegt Spielzeug, es stehen Bilder dort und die meisten zieren Figuren von Engeln. Hier möchte ich mir keine Geschichten ausdenken, denn sie könnten nie von einem langen und erfüllten Leben handeln, sondern nur von dem Schmerz der Eltern, denen viel zu früh das Liebste genommen wurde. Daher sehe ich mir diese Steine nicht zu genau an, gehe schweigend weiter, in Gedanken bei denen, die um ihre Kinder trauern.
Was wird eines Tages auf meinem Stein stehen? Zu welchen Gedanken und Geschichten wird er inspirieren?
© Simone Hülsermann 2025-01-20