Ein schneidend kalter Wind kündigt die Nacht an. Im Westen sinkt der gelbe Ball erschöpft hinter den Horizont. Ein schöner Platz auf dem Grat des Hügels, nichts verwehrt die Aussicht. Die Gedanken können fliegen. Der Zufall hat die beiden hierher geführt.
Sie spazieren eng umschlungen den Pfad entlang, der in den Wald hineinführt. Die Bäume halten den kalten Wind ab. Es gäbe so viel zu sagen, Luftschlösser bauen, Zukunft planen. Und doch plätschert das Gespräch dahin, dreht sich um Belangloses. Eine Weggabelung. Sie gehen nach links, noch ein Stück tiefer in den Wald hinein.
Sie bleiben stehen und blicken sich tief in die Augen. Der Worte sind genug gesprochen. Lippen berühren sich, ganz zart zuerst, um sich dann gierig zu umschließen. Zwei Körper vibrieren vor Erregung und Glücksgefühl. Und irgendwo ganz tief unten mischt das schlechte Gewissen mit. Oder ist es das, was den Reiz erst ausmacht?
Es wird finster und so lenken sie ihre Schritte wieder zurück auf den Weg, auf dem sie gekommen sind. Finger werden klamm, Finger umklammern sich, spenden Wärme, spenden Trost. Sie verlassen den Schutz des Waldes. Im Gasthaus ist alles dunkel, die Fenster nur schwarze Löcher, kein Tropfen Bier rinnt um diese Jahreszeit aus dem Zapfhahn.
Sie lehnen sich an den Wagen, ihre Lippen finden erneut zueinander, Zungen umkreisen sich neugierig, immer mehr fordernd. Die Kälte, sie ist augenblicklich vergessen. Endorphine fluten die Körper. Eng umschlungen stehen sie in dem erloschenen Tag, glücklich für den Moment. Was darf, was soll, was kann…?
Irgendwann steigen sie ins Auto, viele ungesagte Worte dem Wind überlassend. Sie müssen heim zu ihren Familien. Die kurze Auszeit ist vorbei. Zu Hause warten ein Abendessen, ein warmer Ofen und der 20.15-Uhr-Krimi. Same procedure as every day. Das Bauchkribbeln wird bald vom schlechten Gewissen abgelöst, dem wiederum schöne Erinnerungen folgen, bis auch diese irgendwann verblassen.
Kornelia bringt Lea bis in die Nähe ihrer Wohnung, gibt ihr noch einen langen Abschiedskuss und fährt nach Hause. Oder das, was sie für ihr Zuhause hält. Man kann auch in einer Beziehung sehr einsam sein. Sie vermag die Tränen nicht zurückzuhalten. Im Radio singt Lady Gaga…
„Lovers in the night,
poets trying to write.
We don’t know how to rhyme,
but damn, we try.“
Der schneidend kalte Wind ist eingeschlafen, der große gelbe Ball längst der Nacht gewichen. An seine Stelle ist eine blasse Sichel gerückt, als sie das Auto im Carport parkt. Das Wohnzimmerfenster ist heimelig hell erleuchtet. Sie vermeint das Knistern der Holzscheite zu hören, die Wärme zu spüren. Aber ihre Gedanken sind woanders. Gedanken können fliegen. Es sind schöne Gedanken.
© Klaus P. Achleitner 2022-04-02