von Sonja M. Winkler
Das Leben hat mich gelehrt, das Herz nicht immer auf der Zunge zu tragen. Ich war, als ich 1973 nach Wien kam, im Studium ehrgeizig und engagiert, aber zu vertrauensselig im Umgang mit Menschen. Ich kam schnell mit Studienkolleg:innen in Kontakt, und mein Name wurde weitergereicht, wenn man jemanden suchte, der einem mit Lautverschiebungen auf die Sprünge helfen sollte. Ich schlug selten eine Bitte aus, hatte ich doch auch einen Nutzen, und der bestand im Wissenszuwachs meinerseits.
In den späten 1970er-Jahren, als ich Studienassistentin war, gab es auf dem germanistischen Institut eine Sekretärin, an der keiner vorbeikam, sowohl wörtlich als auch im übertragenen Sinne, denn der Gang zu den Zettelkästen der Bibliothek war eng und die Körperfülle der Sekretärin gewaltig. M. hatte ein Hohlkreuz und einen Bauch wie eine Hochschwangere, rote Haare, ein großes Gesicht und eine kleine Lücke zwischen den beiden oberen Schneidezähnen. Kaum hatte man den Türöffner-Knopf am Eingang des Instituts gedrückt, hörte man schon schallendes Gelächter. Anzunehmen, dass ihr einer der Assistenten gerade einen zotigen Witz erzählte, den sie mit einem verrucht klingenden „Helló“ quittierte. Mit Meidlinger l, bebendem Busen und betont melodiösem Nachspiel auf dem o.
So gut wie alle, die zum Mittelbau des Instituts gehörten, waren mit ihr befreundet. Ich auch. Daher verschwieg ich nicht, dass ich mir hin und wieder durch Nachhilfe in Mittelhochdeutsch zusätzlich Körberlgeld verdiente. Dass sie mir aus meiner Offenherzigkeit einen Strick drehen würde, daran hätt ich im Traume nicht gedacht.
Meine Diplomarbeit, die damals Hausarbeit hieß, tippte ich im Sekretariat auf der elektrischen Schreibmaschine, weil sie ein Korrekturband hatte. Die intime Kenntnis dieser Schreibmaschine, ihrer Vorzüge und Tücken, sollte mir einmal einen guten Dienst erweisen. Auch mein Wissen um die lexikalischen Eigenheiten von M. würde mir zustattenkommen.
M. war nicht nur ob ihres Lachers berüchtigt, sie hatte auch eine Vorliebe für bestimmte Wörter, mit denen sie ihre Vormachtstellung zur Geltung brachte. „Gefälligst“ war so ein von ihr überstrapaziertes Wort. Jeder sollte dies oder das gefälligst tun oder getan haben. M. war auch die Einzige, die nach bestandener Lehramtsprüfung zu allen Studentinnen, die nicht verheiratet waren, „Fräulein Magister“ sagte.
1984 flatterte ein Brief vom Finanzamt ins Haus. Eine anonyme Anzeige samt Vorladung. Das Gespräch mit dem Beamten brachte rasch Licht in die Sache. Man beschuldigte mich, große Einnahmen aus Nachhilfestunden zu lukrieren. Ich war schockiert und brach in Tränen aus. Der Beamte reagierte betreten. Ich bat, einen Blick auf das Schriftstück werfen zu dürfen, das eingegangen war. Das Fräulein Magister soll gefälligst Steuern zahlen, las ich und erkannte sofort die Schieflage des kleinen ä.
M., dachte ich im Stillen, achte in Hinkunft lieber auf die Anschläge pro Minute und unterlass gefälligst jene auf mich! Der Beamte zerriss die Anzeige.
© Sonja M. Winkler 2020-10-06