Gehwegschäden auf der Milchstraße

Jamal Tuschick

von Jamal Tuschick

Story

1970 bestimmten Woodstock und Easy Rider die ästhetischen Leitlinien. Ich ritt mein Fahrrad im Chopper-Style mit flach angestellter Vorderradgabel und einem Fuchsschwanz an der Peitschenantenne, die sinnlos über dem Gepäckträger vibrierte. Ich war Low Rider und meine Vorbilder, zu denen zwei ältere Brüder, die wie Marc Bolan (T. Rex) und Alvin Lee (Ten Years After) aussahen, und ein Hulk als Cousin in der Metzgerlehre zählten, waren so große Poser, dass für sie das Aussehen ihrer Maschinen wichtiger war als das Fahrverhalten. Ihr Expertenwissen über Buckhorn und Apehanger gab mir schwer zu denken. Ich schätzte den flachen gestreckten Look, der sich in vorverlegten Fußrasten vollendete. Ich teilte meine Präferenzen mit beinah allen Jungen meiner Schule, ohne mich mit den meisten in einem Boot zu wähnen. Mein Wir schloss nur die Fahrschüler aus Linsengericht ein. Für den Nachwuchs aus dem Umland war Grünhausen, was Offenbach für den Rodgau immer noch ist – die Stadt, in der die Dinge passieren. Der höchste Punkt von Linsengericht drückt auf den Franzosenkopf. Die hessisch-bayrische Grenze zieht dem Geländeknubbel einen blanken Scheitel. Der südliche Hang fällt zum Geißelbacher Forst in Unterfranken ab. Nirgendwo fallen Unterscheidungen zwischen hessisch und unterfränkisch drastischer aus als in meiner Ursprungsumgebung. Nirgendwo lassen sich solche Feststellungen schwerer begründen.

Es gab ein zweites außerfamiliäres Wir. Es verband mich mit Schimsky. Er zog mich zu einem Unterricht unter freiem Himmel heran und trat dabei wie der Förster im Loden auf. Mit dem Flachmann ging er in die Pilze und mit dem Kescher auf Schmetterlingsjagd. Ich war in Schlaghosen und Pullunder mit von der Partie. Schimsky belehrte mich wie im Fieber. Gar nicht übertreiben ließ sich die Bedeutung der Duftsignale bei Schmetterlingen. Er kupierte die Fühler eines Falters und sagte gefühlsroh: „Nun ist der Geruchssinn erloschen.“ Sollten Sie das grausam finden, dann fragen sich mich nicht, was Knaben aus Linsengericht Fröschen, Ratten und fremden Kindern anzutun imstande waren. Die Mendelsche Vererbungslehre war ein Steckenpferd von Schimsky. Ernährungsmangel kann zu Abweichungen in Größe und Färbung führen. Man spricht von Aberrationen. Die diagnostizierte ich bei mir selbst. Meine Entwicklung stockte. Sie führte nicht zu langen Haaren, sehenswerten Muskeln und ordentlichem Bartwuchs sowie auf Konzerte der Deep Purple und Uriah Heep. Vielmehr verirrte ich mich, geächtet von meinen Brüdern, in einem Labyrinth unklarer Empfindungen.

1972 kam Vera zur Welt. Bei seiner Tochter versagte Schimsky auf der ganzen Linie. Er erkannte die Raupe des Trauermantels an ihren Rückenflecken, aber Vera erkannte er nicht. Bevor sie zwanzig wurde, heiratete sie den auffälligsten Mann im Landkreis. 1992 wurde Omri geboren und schon ein Jahr später Asenath. Für die Leute waren Omri und Asenath arabische Namen.

© Jamal Tuschick 2024-01-13

Genres
Romane & Erzählungen