Der treibende Motor eines jeden Projekts ist nicht – wie immer wieder behauptet – die aromatisch geröstete, zu feinem Pulver zermahlene und mit vor Hitze sprudelndem Wasser aufgegossene Kaffeebohne. Nein, es existiert eine noch stärkere, bedrohliche, ja fast tödliche Macht. Eine Kraft, vor der wir alle gleich sind. Die uns mit strenger Hand zur PĂĽnktlichkeit zwingt. Ihr Druck quetscht aus uns Höchstleistung und Kreativität zugleich. Sie vermuten es bereits:
Es ist die Deadline.
Anfangs noch klein und in weiter Ferne am Kalenderhorizont glitzernd, kriecht sie stetig näher. Wie eine gigantische Killerschnecke, die ein saftiges Blatt Eisbergsalat ins Auge gefasst hat. Hören Sie, wie sie unaufhaltsam heranschlurft? Tik. Tok.
Ja, richtig gehört. Diese Schnecke macht “Tik. Tok.”
Je näher sie rückt, desto unruhiger rutschen unsere Sitzknochen am durchgesessenen Bürosessel hin und her. Die Häferl, Gläser und Teller stapeln sich auf dem Schreibtisch, als Zeitzeugen unserer dramatischen Lage, meterhoch dem nervös flackernden Halogen-Tageslicht der Deckenlampe entgegen. Ich nenne dieses architektonische Meisterwerk liebevoll “die schiefen Geschirrtürme von Pisa”. Tik. Tok.
Endlich ist ein Ende in Sicht! Morgen ist Abgabe und die finale Kundenfreigabe ist soeben im Postfach eingelangt. Nur noch die Druckdatei exportieren und die Killerschnecke kann glücklich ihr Eisbergsalatblatt mampfen. “MEEP!” Was ist das? Eine Fehlermeldung? “Öffnen fehlgeschlagen. Dateiformat nicht erkannt.” Warum? Das ging doch bis jetzt ohne Probleme? Durchatmen. Einfach nochmal probieren. Tik. Tok.
“MEEP!” DAS GIBT’S DOCH NICHT! In meinen Ohren höre ich das wichtigste Credo, das mich “The IT Crowd” gelehrt hat: “Have you tried turning it off and on again?” Also Neustart. Tik. Tok.
“MEEP!” Jetzt ist Schluss mit lustig! Mit der Krawatte als Rambo-Stirnband um den Kopf beginne ich die Festplatte nach automatischen Backup-Files zu durchforsten. Wo liegen sie denn? Ah! Hier. Öffnen. Was?! Wo sind die letzten Korrekturen? Da fehlen gut sechs Stunden Arbeit! In meinen Augen glänzen die ersten Verzweiflungstränen. Tik. Tok.
Vielleicht hilft das Internet? Mit letzter Kraft öffne ich den Browser, meine schwachen Finger tippen die Fehlermeldung ins Suchfenster. Da! Eine Software, die Hilfe verspricht. Für nur 99,99 € repariert sie jede noch so widerspenstige Datenkorruption. Ich scrolle vorbei an bunt blinkender Clickbaitwerbung und grell animierten Bannern direkt zum Kauf-Button. Tik. Tok.
Zahlen. Tik. Download. Tok. Installieren. Tik. Und Ă–ffnen … Ha! Haaaa! Haaaaaaa! Alles wieder da! Ich springe auf, tanze um den Schreibtisch. Die schiefen GeschirrtĂĽrme fallen klirrend in meinen Freudengesang mit ein. „MEEEEP“ Ich halte mitten im Sprung inne. Mein Blick wandert in Zeitlupe zum unheilvoll leuchtenden Monitor. Vor Grauen richten sich alle meine Nackenhäarchen auf. Eine Fehlermeldung.
„99,99 neue Trojaner gefunden.“
© Alexandra Brenner 2021-11-23