4. Gerichtsweg 28

Laura Schenk

von Laura Schenk

Story

Denk mal an das rotbraune, rechteckige Ziegel-Gebäude mit dem überstehenden Flachdach und den vielen Glasfenstern.

An den Anbau mit den beiden bis oben hin verglasten Lichthöfen. Davor steht eine weiße Säule, auf der sich in schwarzen Lettern die Namen ehemaliger Leipziger Verleger um die eigene Achse winden.

Dann denk an das prächtige rötliche Gebäude im Neorenaissance-Stil, das hier mal stand. Mit den steilen schwarzen Schrägdächern, überkuppelten Türmen und Erkern.

An den stuckgeschmückten Festsaal mit den großen Bleiglasfenstern und den ovalförmigen Deckenmalereien. An die Leute, die dieses Haus besuchten, die Vereine, die hier gegründet wurden.

Denk mal an die Frau, die dem Vortrag eines Herrn Hofrat Büttner lauscht. Er spricht davon, wie es in den Blindenanstalten zugeht: dass die Übertragung von Büchern mit Tafel und Griffel viel zu lang dauern würde; dass es kaum Abschreibekräfte gebe; dass man zwar ein paar wenige Bücher habe, aber nur Belletristik und keine wissenschaftlichen Veröffentlichungen oder dergleichen. Darüber, wie wenig das den deutschen Buchhandel interessiere.

Büttner weiß nicht, dass er in Marie Lomnitz jemanden gefunden hat, der nicht nur zuhören, sondern auch etwas anfangen kann. Er ahnt nichts von dem Vorhaben, das sie fasst: Eine Leihbibliothek für Punktdruck; die erste Bibliothek für Blinde; eine Zentralbibliothek in Leipzig.

Einen geeigneten Raum weiß sie auch schon: das Buchhändlerhaus im Graphischen Viertel. Die zu ergreifenden Maßnahmen entspannen sich wie von selbst vor ihr, während sie auf ihrem Stuhl herumrutscht.

Sie kann es kaum erwarten, anzufangen. Die geeigneten Schreibmaschinen braucht man natürlich, genügend Schreibkräfte und selbstverständlich wird die Ausleihe unentgeltlich sein. Im ganzen deutschsprachigen Raum muss man ausleihen können – und zwar alles: Nicht nur Belletristik, sondern Wissenschaftliches und am besten Musikalisches, denn das gibt es sonst nirgendwo in Brailleschrift, wie Büttner erzählt.

Ausgerechnet musikalische Blätter und Werke gibt es keine? Marie Lomnitz denkt an die ersten Male, dass sie am Konservatorium die Hände auf die Orgel gelegt hat, an das Gefühl, das Atmen, dass ihr das Klavierspielen noch heute verschafft.

Wer nicht sehen kann, der sollte nicht auch noch auf dieses Gefühl – auf die Musik – verzichten müssen.

© Laura Schenk 2022-12-24

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