Die Wochenenden gestalteten sich so, dass wir mit unserem Vater Max aus der Stadt heraus Richtung Syratal spazieren mussten. Uns Kindern passte dies überhaupt nicht und wir versuchten stets, uns dem zu entziehen, indem wir dabei eine „Fleppe“ zogen, dass es zum Steinerweichen war. Jedoch unserem Vater war es wichtig, dass wir Bewegung an der frischen Luft bekamen und so gab es keine Kompromisse. Sobald wir in die umliegenden Wälder Plauens einbogen, ließ er uns Stöcke suchen und schnitzte hieraus Speere, veranstaltete Wurfspiele und Wettrennen, sodass schnell jeder Anflug schlechter Laune vergessen war. Er war ein fröhlicher Mensch, der uns zu nehmen wusste, doch eines Tages im August sollte es damit für immer vorbei sein. Vater musste an die Front und mein vier Jahre jüngerer Bruder Jürgen und ich streiften fortan allein im Wald herum, sammelten Preiselbeeren, Wegerich und Brennnesseln als Bereicherung für den Mittagstisch und stellten allerhand Schabernack an.
Ab dem Jahr 1943 besuchte ich zweimal in der Woche die Hitlerjugend. Dort konnte ich mich sportlich betätigen, Schießübungen mit dem Luftgewehr absolvieren, aber auch in der Flüchtlingshilfe mitwirken. Im Winter, ich war gerade elf Jahre alt geworden, lief ich mit einem großen Schlitten die steile Bahnhofstraße hinauf, um am Bahnhof Flüchtlinge abzuholen. Diese völlig abgekämpften und ausgehungerten Menschen fuhr ich anschließend hinunter zur Angerschule, wo sie warmes Essen und Kleidung bekamen. Meine Mutter Elise hatte mehrere Arbeitsstellen. Unter anderem machte sie zweimal in der Woche bei Familie Graupner, die in der Nähe des Altmarkts eine kleine Bäckerei besaßen, sauber. Eine Begebenheit fällt mir hier ein, und zwar stand dort, als ich sie einmal begleitete, ein großes Blech mit den herrlichsten Pfannkuchen. Man bot mir an, einen zu essen. Als wir später nach Hause gingen, war jedes Bällchen auf dem Blech einmal angebissen. Der folgende Ärger hielt sich aber zum Glück in Grenzen. Ja, die Zeit blieb nicht einfach stehen, auch wenn wir uns bereits im vierten Jahr dieses grausamen Krieges befanden. So nahm ich beispielsweise bei einer älteren Dame Privatunterricht im Akkordeonspiel. Mehrfach in der Woche lief ich hierfür, das schwere Instrument auf meinem schmalen Kinderrücken, von der Innenstadt hinaus nach Haselbrunn. Ein Held wurde ich mit meiner Musik nicht, üben außerhalb der Pflichtstunden lag mir fern, aber ich spielte es gern und musizierte zuweilen mit einem Jungen aus unserer Straße. Zu jenem Instrument kam ich übrigens ebenfalls über die lieben Bäckerleute und so manchen Umzug hat es in den Folgejahren mit mir überstanden, durch die Kriegswirren heraus, gebettet auf einem Handwagen, untergekommen gemeinsam mit uns Flüchtigen in einer dunklen Kellerwohnung in Mühltroff, weitertransportiert zum Gutshof meiner Schwester nach Wüstendittersdorf. Später Richtung Studentenwohnheim nach Leipzig, zu so mancher Party, bis es schließlich irgendwann stehenblieb, als meine Frau und ich bereits in der Mahlsdorfer Straße in Berlin lebten. Dort fristete es sein Dasein hinter einem langen Vorhang auf der verglasten Veranda und ich denke heute noch so manches Mal daran und wüsste gern, was aus ihm geworden ist.
© Stefanie Senftleben 2024-05-01