von Alexander Heller
Manche Geschichten schreiben sich einfach so. Sie sprudeln aus einem heraus, als wäre man eine Flasche, gefüllt mit Cola, in die man ein paar Mentos geworfen hat. Sie schießen in alle Himmelsrichtungen und landen dann auf allem, was nicht nach drei unter einem Regenschirm steht. Diese Geschichten eignen sich super für die leichte soziale Interaktion. Smalltalk eben. Es sind Geschichten, die schon irgendwie – irgendwer – irgendwo – schon gehört hatte. Zumindest in einer abgewandelten Form.
Doch die richtig guten Geschichten kommen von unten. Ganz tief sitzen sie in einer Ecke und warten auf ihren großen Moment. Sie wollen nicht aufdringlich sein. Deswegen sitzen sie da und warten, bis sie entdeckt werden. Es gilt also die goldene Regel „Je besser die Ecke ausgeleuchtet ist, umso unterhaltsamer ist die dazu zugehörige Geschichte“.
Die richtig guten Geschichten brauchen aber kein Licht. Sie kennen ihren Wert und auch den Inhalt, den sie transportieren sollen. Das sind die wahren Künstlerinnen. Sie benötigen keine Show-Effekte oder attraktive Schauspieler*innen. Kein Feuerwerk, keine Pointe. Nur eine richtig gute Geschichte. Ich habe eine Geschichte, die sitzt so tief in der dunklen Ecke, dass man sie kaum noch erkennt. Trotzdem ist sie da und schaukelt in ihrer Hängematte im Dunkeln hin und her. Diese Geschichte kommt nur alle paar Jahre ins Scheinwerferlicht. Natürlich nur, wenn die Umstände den Anforderungen der Geschichte entsprechen.
Die schönsten Geschichten sind die Momente, in denen man eine Vorahnung hat, wie alles ausgehen könnte und dann kommt es genau zu diesem Ergebnis. Jahre später erzählt man sich dann am Küchentisch die Geschichte und schließt sie mit „Ich habe es eben von Anfang an geahnt“ ab. Dann lachen alle gemeinsam, weil man in der Vergangenheit ein paar doofe Sachen gemacht hat. Manchmal ergibt sich darauf eine kurze innige Umarmung, dass die Geschichte gleich zum Anlass nimmt, ein bisschen weiter in eine dunkle Ecke zu gehen, damit sie das Gefühl konservieren kann. Es müssen auch keine positive Geschichte sein, um eine schöne Geschichte zu werden. Die schönste Geschichte ist die, von der man am meisten gelernt hat und in Zukunft mit stolz geschwollener Brust von einer persönlichen Weiterentwicklung erzählen kann.
Jeder hat aber auch noch diese eine oder manchmal auch mehrere Geschichten, die auf einem riesigen Scherbenhaufen sitzen und denen man bloß nicht zu nahe kommen darf. Bei nur dem kleinsten Windstoß stürzt der Scherbenhaufen ein und die Geschichte wäre sauer. So richtig sauer. Sie wäre so sauer, dass sie sich permanent in das Hirn brennt, nur zum einen zu beweisen, dass sie die Kontrolle hat. Es würde Monate dauern, bis man den Scherbenhaufen genau wieder so aufgebaut hat, wie die Geschichte es möchte. Deswegen geht man mit diesen Geschichten einen Kompromiss ein. „Ich lass‘ deinen Scherbenhaufen in Ruhe und du mich, Deal?“ „Deal“ zischte die Geschichte mit hochgezogener Nase.
© Alexander Heller 2021-10-08