Geschwistergeschichten

Christa Weißmayer

von Christa Weißmayer

Story
Himmel

Der kleine Engel Namenlos trat seinen zweiten Arbeitstag in der Himmelsbibliothek an. Er war so stolz, endlich eine bedeutsame Aufgabe erhalten zu haben. Leider nahmen ihn seine Geschwister gar nicht ernst. Zuerst glaubten sie ihm nicht, direkt vom heiligen Petrus an den Leiter der Himmelsbibliothek vermittelt worden zu sein. Später sagten sie, er hätte alles nur erfunden, um sich wichtig zu machen. Sein Bruder hänselte Namenlos und nannte ihn einen Lügner und blöden Angeber. Er traute ihm diesen verantwortungsvollen Ferialjob nicht im Geringsten zu.

Namenlos fand sich nun schon gut alleine in den weiten Hallen der Bibliothek zurecht. Um Zeit zu sparen, flog er schnurstracks in die Kinderbuchabteilung und landete direkt neben dem für ihn bereitgestellten Wagen. Zahlreiche Werke warteten geduldig darauf, heute ins Regal geschlichtet zu werden. Der Rollwagen war bis oben hin schwer beladen. Der kleine Engel glaubte, es wären diesmal bestimmt doppelt soviel Bücher wie gestern. Er schob das schwere Gefährt kräftig an. Die Räder quietschten und knarrten, der Wagen kam nur ganz langsam in Fahrt. Als Namenlos nur kurz stehen blieb, um durchzuschnaufen, gelang es ihm fast nicht mehr den Bücherwagen wieder in Gang zu bringen. Er wischte sich mit seinem karierten Stofftaschentuch die Schweißperlen von seiner Stirn. Als er schon ans Aufgeben dachte, fiel ihm sein Bruder ein. Auf gar keinen Fall sollte dieser recht behalten, dass er es nicht schaffte.
Er stellte sich hin, Brust raus, Bauch rein, holte tief Luft und prustete aus voller Kehle: „Ich kann das, ich schaff’s!“
Stunde um Stunde plagte sich der kleine Engel, flatterte zwischen den Regalen wie ein Wirbelwind hin und her. Zu Mittag gönnte er sich eine winzige Rast und blätterte im Buch „Pingu und seine Familie“. Pingu war, wie schon sein Name sagte, ein Pinguin. Papa und Mama Pinguin erwarteten Nachwuchs. Pingu erhielt einen besonderen Auftrag, er sollte helfen, das Ei auszubrüten. Weil das Stillsitzen total langweilig war, hörte er Musik und tanzte bald fröhlich mit dem Ei durchs Zimmer. Das Ei fiel zu Boden und rollte sogar bei der offenen Türe auf die Straße hinaus. Gott sei Dank zerbrach das Ei nicht und das Geschwisterchen innen blieb heil. Bald danach herrschte große Aufregung. Die Eischale bekam einen Riss und ein winziger Schnabel ragte heraus. Es war so weit, die kleine Pinga schlüpfte. Von nun an drehte sich alles nur mehr um das niedliche Baby. Vergebens versuchte Pingu, sich bemerkbar zu machen. Mama Pingu tröstete ihn, er müsste erst in die Rolle des großen Bruders hineinwachsen. Sie betraute ihn damit, das Papier, mit dem sie Pingas Po gereinigt hatte, ins Klo zu werfen.
Dem kleinen Engel kam Pingus Schicksal bekannt vor. Er erinnerte sich daran, wie seine jüngere Schwester geboren wurde. Auch Mama Engel bat ihn, die schmutzigen Windeln in den Mülleimer zu werfen. Zuerst weigerte er sich, aber schließlich hielt er sich mit zwei Fingern die Nase zu und murmelte: „Ich mach’s, ich mach’s schon.“ Es scheint, als wäre diese verantwortungsvolle Tätigkeit eindeutig den älteren Geschwistern vorbehalten.

Namenlos fand, Pingu war für einen Engel kein passender Name. Damit er aber nicht verloren ging, teilte er seinen Zettel in zwei Spalten. Auf die rechte Spalte schrieb er als Überschrift ‚Passt gut‘ und auf die linke ‚Eventuell‘. Er notierte dann Pingu bei Eventuell.

© Christa Weißmayer 2022-01-26

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Komisch, Hoffnungsvoll, Inspirierend, Unbeschwert, Entspannend
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