An nicht zu heißen aber doch angenehm warmen Frühsommertagen sitze ich oft auf dieser Bank in der Stadt und beobachte die Gesichter der vorbeieilenden Menschen, versuche, in den Augen dieser Menschen ihre Geschichten zu erkennen, betrachte ihre Blicke und Gesten und lese darin ihr Leben – vielleicht, um mich ein wenig von meinem eigenen abzulenken. Ich nehme immer dieselbe Bank schräg gegenüber der Ampelanlage, denn dort müssen sie kurz verweilen, und ich habe Zeit, sie zu studieren, zu sondieren, denn der Typus Mensch ist ein recht vielfältiges Wesen, und es gibt viele Arten von Gesichtern: blasse, bärtige, geschminkte, zerfurchte, hübsche. Den meisten ist gemein, dass sie gehetzt sind, immer eilig, mit unruhigen Blicken und Taschen an der Hand, die rote Ampel verfluchend. Über allen schwebt eine ständige Suche: die Einsamen suchen Schutz, die Hastenden lassen suchen, die Schönen werden gesucht, und vielleicht suche auch ich. Ein schmales, ein rundes, ein trauriges Gesicht – und ich denke mir ihre Geschichten aus, fühle mit A 20 ihnen, werde Teil dieser unzähligen, namenlosen Gesichter. Die Falten unter den schon leblosen Augen des alten Mannes zeigen den Kummer seiner achtzig Jahre, den Verlust der Jugend, Einsamkeit, Verbitterung. Daneben der Blick des kleinen Jungen, wach und auf Entdeckungsreise, unbeschwert und glücklich, eine Hand in der schützenden Hand seiner Mutter, Geborgenheit, in der anderen ein Spielzeugauto, das er voller Stolz mit sich trägt. Dort eine junge Frau, den Kopf neckisch nach oben geneigt, langsam gehend, die langen dunklen Haare über ihre Schulter zurückstreifend, die Brüste nach vorn gestreckt, wie eine Hure schlendernd, ihre unter dem kurzen Rock hervorstechenden nackten Beine zur Schau tragend, bewusst ihrer Schönheit, und doch mit Augen, die Einsamkeit verraten. Hinter ihr der bärtige Mann, sehnsuchtsvoll ihre Beine betrachtend, ihren Po, ihr Haar. Sein Wunsch, diese Frau zu berühren, schwebt deutlich über ihm, und hundert Meter weiter wird er sich enttäuscht fragen, warum er sie nicht angesprochen hat, wird wieder keine Antwort finden und sie bald vergessen haben. Geschäftsmänner, Geschäftsfrauen, Hausmänner und Hausfrauen, Tagediebe, Kinder und Paare. Am meisten liebe ich es, Paare zu beobachten, glückliche Paare, nicht die, die sich nicht berühren 21 und nur stumm nebeneinander hergehen, jeder für sich in einer eigenen Welt, sondern die, die wie eine einzige Person scheinen, die ihre Gedanken teilen und die Sekunden an der Ampel nutzen, um sich zu umarmen oder anzusehen, denn ihr Glück strahlt auf mich ab, und oft lächle ich sie an, und sie verstehen, dass ich mit ihnen fühle. Wieder ein Schwall an der Ampel, und der Mensch auf der Bank gegenüber schreibt auch – vielleicht auch über die Gesichter, die Augen, gehetzte, ruhige, gelassene, traurige. Die Turmuhr schlägt, und es ist Zeit zu gehen, Teil der anderen zu werden, und ich mische mich unter sie, die Gehetzten, Ruhigen, Gelassenen, Traurigen, geborgen zwischen all den Schicksalen, glücklich, nicht allein zu sein, erfüllt von dem Leben um mich, gestärkt mit neuer Kraft. Der Himmel verzieht sich hinter dunklen Wolken, als habe auch er genug gesehen, genug Gesichter, und es bleibt mir nur doch diese eine Frage: welches Gesicht trage ich
© Reinhard Schnelle 2024-01-04