Hallo ihr alle, wie geht es euch denn so? Habt ihr ordentlich gelacht, getanzt und gefeiert? Habt ihr Böller abgeschossen, Raketen gezündet und Blei gegossen? Oder habt ihr an eure Umwelt gedacht? Daran, dass die Feuerwerkskörper Ressourcen verbrauchen, CO2 emittieren und alle Tiere in näherer Umgebung erschrecken, wenn die nicht schon vor lauter Rauch erstickt sind? Wenn ihr euch jetzt fragt, wer ich bin, dann lasst euch eines gesagt sein: Es geht euch nichts an. Seit Jahrtausenden schert ihr euch nicht drum. Und nur weil wir jetzt eure Sprache sprechen, „intelligent“ auftreten, haben wir, habe ich einen anderen Wert?
Und ich wette, neun von zehn werden mich nur als ein interessantes Forschungsobjekt, eine Sensation sehen, das „Erste sprechende Schaf auf der gesamten Welt“. Eine wahre Schlagzeile wäre das, nicht wahr? Nun, ihr werdet wohl mit folgender Schlagzeile vorliebnehmen müssen: „Schaf klagt an: Massentierhaltung sei Folter“. Zu drastisch? Persönlich betroffen? Als „Zeuge“ untauglich? Und dennoch – vermutlich würde in vielen Artikeln noch nicht mal mein Name vorkommen. Das ist der Grund, warum ich ihn nicht nennen werde. Nicht, dass irgendwelche ganz hellen Birnen unter euch meinen Vorwurf mit Angst verwechseln. Denn selbst wenn ihr meinen Namen wüsstet, könnte sowieso niemand damit etwas anfangen, weil niemand Schafen in einer Massentierhaltung einen Namen gibt und sich diesen auch noch merkt. Wozu auch, sie werden ja ohnehin bald geschlachtet. Und eine zweite Sache würde euch daran hindern, mich zu finden, mich zu bestrafen: Ich bin tot. Wenn ihr diesen Brief lest, bin ich schon tot. Schließlich muss ein Schaf immer so früh wie möglich geschoren, geschlachtet werden und als ‚Lammkeule‘ oder ‚-braten‘ in euren Regalen auftauchen. Da bleibt kaum Zeit, Sprechen zu lernen, bevor man Abschied vom Leben nehmen muss.
Ich möchte hier aber nicht nur einen Brief für meine Schwestern und Brüder schreiben, sondern für die gesamte Umwelt. Ich könnte jetzt lange ausholen, mit Begründungen, warum ihr diesem Planeten mehr schadet als nutzt, aber ihr wisst das alles schon. Habt es euch erklären lassen von verschiedenen Wissenschaftler*innen, sogar von einer Jugendlichen aus Schweden. Und ihr habt es immer noch nicht kapiert. Ihr seht, dass es so nicht lange weitergehen kann, aber ihr tut nichts, weil ihr nicht wollt, weil es nicht bequem wäre. So wird es aber nicht ewig bleiben. Im Moment ist eure Situation wie eine auf dem Kopf stehende Pyramide, die jeden Moment kippen wird, umfällt und alles unter sich begräbt. Und was wird dann übrig bleiben? Nicht eure Zivilisation, auf die ihr so stolz seid. Nicht die Flora und Fauna, wie ihr sie kennt. Nein, das einzige, was übrigbleibt, ist der Schutthaufen, die vielen kleinen, alles begrabenen Trümmer. Aber macht euch keine Illusionen. Ihr habt nicht die Kraft, eine ganze Erde auszulöschen und untergehen zu lassen. Nein, aus den Trümmern werden sich andere Arten erheben, möglicherweise intelligente Arten. Sie werden euren Platz einnehmen und vielleicht wird irgendwann eine weitere auf dem Kopf stehende Pyramide einstürzen. Wer weiß denn, ob wir nicht ohnehin schon auf einem längst zu Staub zerfallenden Trümmerhaufen leben?
Euer Schaf, Geknechteter und Essen
© Mathilda Engelhardt 2023-06-25